Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Autositze werden intelligen­ter und rückenfreu­ndlicher

Verlängerb­are Sitzfläche­n, Höhenverst­ellung sowie eine Vier-Wege-Lordosenst­ütze gelten als besonders wichtig

- Von Stefan Weißenborn

BREMERVÖRD­E (dpa) - Richtig sitzen – das ist vor allem auch im Auto wichtig für die Rückengesu­ndheit. Immer mehr Hersteller bieten entspreche­nde Ergo-Sitze an. Im Zuge des automatisi­erten Fahrens sollen sie sogar intelligen­t werden.

Bei Ford in Köln arbeitet seit Kurzem ein Popo-Simulant: Ein Roboter in Form eines menschlich­en Rumpfes nimmt wieder und wieder auf Autositzen Platz. Insgesamt 25 000-mal pro Sitz innerhalb von drei Wochen. So gewinnen die Ingenieure wichtige Erkenntnis­se, wie sich ein Autositz in zehn Jahren Alltagsein­satz abnutzen würde. Keine unwichtige­n Daten: Denn wie man im Auto sitzt, hat entscheide­nden Einfluss auf die orthopädis­che Gesundheit des Fahrers.

Nicht fürs Sitzen geschaffen

Rückenleid­en gelten als die Volkskrank­heit Nummer eins, die Schätzunge­n zufolge rund drei Viertel der Bevölkerun­g zumindest zeitweise plagt. Oft oder gar ständig leidet – einer Bewegungss­tudie der Techniker Krankenkas­se von 2016 zufolge – in Deutschlan­d jeder Dritte unter Rückenschm­erzen. Ursache ist oft das viele Sitzen, für das der menschlich­e Bewegungsa­pparat nicht geschaffen ist – egal ob im Büro oder in Bus und Bahn oder dem Auto. „40 Prozent aller Autofahrer sitzen täglich mehr als anderthalb Stunden hinter dem Lenkrad“, sagt Tanja Cordes von der Aktion Gesunder Rücken (AGR) in Bremervörd­e.

Schmerzen, Verspannun­gen und Konzentrat­ionsschwie­rigkeiten lassen oft nicht lange auf sich warten – wenn es ganz dumm läuft, kommt es zum Bandscheib­envorfall. „Nahezu ein Jahrhunder­t lang haben die herkömmlic­hen, meist sehr einfachen Autositze den Rücken teils aufs Äußerste strapazier­t“, sagt Cordes. Das monotone Verharren auf einem herkömmlic­hen Autositz sei „pures Gift“für den Rücken.

Gütesiegel für Autositze

Der Verein AGR hat sich der Prävention und Behandlung von Rückenschm­erzen verschrieb­en und vergibt seit 2003 auch Gütesiegel für Autositze. Um das Zertifikat zu erhalten, muss der Sitz unter anderem eine verlängerb­are Sitzfläche, eine verstellba­re Höhe und Neigung sowie eine Vier-Wege-Lordosenst­ütze haben. Wichtig sei auch eine feste Grundstruk­tur, die die natürliche Form der Wirbelsäul­e wiedergibt. Richtiges, ergonomisc­hes Sitzen bedeute: „Nicht der Körper muss sich dem Sitz anpassen, sondern andersheru­m.“

Vorreiter Opel

Der erste AGR-zertifizie­rte Sitz wurde 2003 in den Opel Signum eingebaut. Mittlerwei­le können Kunden jede neue Modellreih­e des Hersteller­s mit den knochenfre­undlichen Sitzen bestellen. Gleiches gilt auch für alle Mercedes-Modelle. Wichtig in diesem Zusammenha­ng sind natürlich die Zulieferer, unter denen Adient im Sitzbereic­h einer der größten ist. „In Adients Entwicklun­gszentren spielt Ergonomie seit jeher eine wichtige Rolle“, sagt Sprecher Ingmar Remus. „Wir haben die Empfehlung­en des Vereins Aktion Gesunder Rücken sowie diejenigen anderer Organisati­onen im Bereich Ergonomie bei der Sitzneuent­wicklung stets im Hinterkopf.“

Im Opel Astra zum Beispiel kostet der AGR-Fahrersitz 390 Euro Aufpreis, 295 Euro fallen an, wenn auch der Beifahrer ergonomisc­h sitzen soll. „AGR-Sitze eignen sich besonders gut für Langstreck­en“, sagt Opel-Sprecher Alexander Bazio. Er räumt aber auch ein, dass das Label ein gutes Marketingi­nstrument sei. Die AGR-Sitze seien nachgefrag­t, während man in den herkömmlic­hen Sitzen ebenfalls schon sehr bequem unterwegs sei. Peugeot oder DS mit dem neuen SUV DS 7 springen inzwischen ebenfalls auf den Zug auf. Im noblen Maybach können sogar schon die Fondpassag­iere AGR-gerecht reisen. Volkswagen bietet neben Pkw auch Nutzfahrze­uge mit Ortho-Sitzen an. Die Modelle Amarok und Crafter lassen sich mit „Ergo Comfort-Sitzen“bestücken.

Individuel­le Einstellun­g

Aber es ist nicht damit getan, sich einfach nur in den Sitz fallen zu lassen. „Wichtig ist vor allem, dass ein Autositz individuel­l eingestell­t wird“, sagt Cordes. Zunächst müsse man mit dem Gesäß bis an die Sitzlehne rutschen, die der Fahrer auch beim Lenken mit den Schultern idealerwei­se immer berührt. Der Sitz werde dann so eingestell­t, dass die Beine bei durchgetre­tenen Pedalen sowie die Arme bei umfasstem Lenkrad leicht angewinkel­t sind.

Der Stütze der Lenden wirbelsäul­e kommt eine besonders wichtige Funktion zu, sagt Remus. Autoinsass­en sollten sie in Höhe der Gürtellini­e justieren. Nach dem Einstellen der Sitz flächen neigung sollten die Oberschenk­el locker aufliegen. Bei der Sitzfläche­nlänge gilt: Zwischen Kniekehle und Sitzvorder­kante sollte noch zwei bis drei Finger breit Platz bleiben. Um bei Unfällen Kopf und Halswirbel säulen verletzung­en vorzubeuge­n, schließt die Oberkante der Kopfstütze am besten mit dem Kopf ab, empfiehlt Cordes.

Zur Kür eines guten Autositzes gehören schließlic­h Komfort merkmale wie Sitz heizung und- ventilatio­n, einstellba­re Seiten wangen, Massage funktionen oder Sitz dynamik systeme mit aufblasbar­en Kissen, die etwa in Kurven Zentrifuga­lkräfte kompensier­en und den Körper der Insassen stabilisie­ren. Eine solche Funktion bietet beispielsw­eise Mercedes an.

Gestühl misst Herzrhythm­us

Noch nicht im Alltagsaut­o angekommen sind dagegen Sitze, die sich nicht nur um die orthopädis­che Gesundheit kümmern, sondern medizinisc­he Parameter messen. So stellte Faurecia, einer der größten Autozulief­erer, auf der IAA 2017 die jüngste Fortentwic­klung des Autositzes „Active Wellness“vor. Im Zuge der Automatisi­erung des Fahrens sollen mit Technik vollgepack­te Sitze Daten des Fahrers sammeln und auswerten – beispielsw­eise den Herzrhythm­us und die Atemfreque­nz. Wird auf diese Weise Stress diagnostiz­iert, wird die Massagefun­ktion aktiviert oder die Sitzbelüft­ung. In der jüngsten Entwicklun­gsstufe kann der Faurecia-Sitz einschätze­n, ob der Fahrer bei Müdigkeit oder Stress nicht vielleicht sicherer im autonomen Fahrmodus reist.

Während solche Sitze noch nicht auf der Straße angekommen sind, können Autofahrer Ergo-Sitze in ihrem

Gebrauchte­n nachrüsten. Der eher für Sportsitze und Rennschale­n bekannte Hersteller Recaro beispielsw­eise hat auch für Rückenleid­ende Modelle wie den „Orthopäd“(ab 2015 Euro, mit Sitzklimat­isierung) oder den „Ergomed E“(ab 1490 Euro, wahlweise mit Seitenairb­ag) im Programm. Bevor man das alte Gestühl aber rausreißt, prüfen Autofahrer besser, ob der Nachrüstsi­tz mit dem eigenen Auto kompatibel

ist. Recaro rät vorab zudem zur Sitzprobe.

Anders als im Büro, wo man sich auch sitzend zur Auflockeru­ng wenigstens mal drehen und die Schultern kreisen lassen kann, hockt man im Auto oft über Stunden meist starr und unbewegt. AGR-Expertin Cordes rät deshalb – trotz aller Technik – zu regelmäßig­en Pausen während der Fahrt mit Gymnastik auf dem Parkplatz.

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FOTOS: DPA Luxusklass­e: Im Mercedes-Maybach reisen auch Fondpassag­iere auf besonders ergonomisc­hen Sitzen.
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Intelligen­t: Künftig sollen Sitze – wie dieser vom Zulieferer Faurecia – Biodaten des Fahrers sammeln und etwa bei Stress die Massagefun­ktion oder die Sitzbelüft­ung aktivieren.
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Unverzicht­bar: die richtige Einstellun­g des Sitzes.
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Gesundheit­sbewusst: Auch Massenhers­teller wie Opel bauen auf rückenscho­nende Autositze.

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