Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Frische Meeresbrise statt Gegenwind
Auf dem wenig kräftezehrenden Ostseeküstenradweg lässt sich viel Energie tanken
Für das Abendessen in der Weinwirtschaft am historischen Marktplatz von Wismar haben die besten Baumeister aller Epochen die Kulisse geschaffen. Die Speisekarte bietet neben dreierlei Panfisch und allerlei veganen Gemüsekreationen auch Wiener Schnitzel. Pro Portion drei stattliche Stücke mit einer entsprechenden Menge Bratkartoffeln. Gut gemeint und besonders von den Radlern unter den Gästen auch gern genommen als Grundlage für eine dreitägige Schnupperfahrt auf dem Ostseeküstenradweg 2. Dabei ist eine Tour mit Gepäcktransport geplant. Noch dazu durch eine Landschaft, die weniger kräftezehrend ist als geeignet, Kraft daraus zu schöpfen. Mit Blick aufs Meer und umweht von einer frischen Brise oder im kühlen Schatten der Alleen, mit denen das Land MecklenburgVorpommern reich gesegnet ist. Knorrige Baumriesen säumen die kleinen Straßen im Hinterland. Mitunter führt der Ostseeküstenradweg 2 auch durch dichten Küstenwald, wo Vögel zwitschern und der Wind zwischen den Zweigen rauscht und für flirrendes Sonnenlicht unter dem Blätterdach sorgt. Wer sich fürs Erste die Etappe von Wismar über Kühlungsborn nach Warnemünde vornimmt, ist jedenfalls gut beraten.
Seebäder und Hansestädte
Offiziell geht der 630 Kilometer lange Ostseeküstenradweg 2 von Lübeck bis Usedom, aber natürlich ist an der Grenze nicht Schluss. Das ist ja das Schöne daran, sagt Jaana Trebesius von der Mecklenburger Radtour, dass man heute „unendlich“weiterfahren kann durch Polen und das Baltikum. Obwohl der Veranstalter Reisen in ganz Europa organisiert, ist ihr diese im Land zwischen den alten Seebädern und Hansestädten besonders ans Herz gewachsen. Städte, für die es sich lohnt, auch mal zwei Nächte zu buchen. Weil sie nach langem Dornröschenschlaf in alter Schönheit erstrahlen und sich, wie Wismar und Stralsund, nun als Weltkulturerbe bezeichnen dürfen.
Prachtvolle Zeugen alter Zeiten
Seit 18 Jahren führt die Wismarerin Marita Hauk Besucher durch ihre Heimatstadt – mit wachsendem Stolz. Das „Wunder von Wismar“nennen sie hier die Wiederauferstehung der Georgenkirche, die nach 300-jähriger Bauzeit in einer einzigen Kriegsnacht zerstört wurde und nach 1990 dank bürgerschaftlichen Engagements aus den Ruinen neu erstand. „Viele ehemalige Wismarer, die noch vor dem Mauerbau nach Lübeck gegangen sind, gehörten zu den ersten Spendern“, sagt Hauk. Jetzt ist die Georgenkirche mit ihrer wunderbaren Akustik ein kulturelles Zentrum. Zu den Konzerten und Theateraufführungen strömen die Menschen, „egal ob gläubig oder ungläubig“, sagt Marita Hauk. Von der Aussichtsplattform auf dem Turm, inzwischen leicht per Aufzug zu erklimmen, schaut man hinab auf die im Mittelalter ganz planmäßig angelegte Stadt, den modernen Seehafen mit den Werften und den alten Hafen, mit dem 1229 alles begann. Auch auf die alte Handelsstraße von Lübeck nach Rostock, die Via Baltica, die nun ein Pilgerweg ist. Verschwunden sind allerdings die 150 Hopfengärten. Von den 182 Brauereien, die Wismar einst reich machten, ist noch eine übrig. Aber die 1800 Giebelhäuser sind prachtvolle Zeugen aus jener Zeit.
Die morgendliche Stimmung in der Altstadt, die netten Cafés, an denen man vorbeiradelt auf dem Weg hinaus zur Wismarer Bucht, lässt die Hoffnung aufkeimen, dass es kein Abschied für immer sei. Ein Gefühl, das sich noch häufiger einstellen wird auf dieser Tour. Schon nach wenigen Kilometern in Rerik zum Beispiel, wo der Fischer Roland Scheller seine Erlebnisräucherei betreibt. In der gemütlichen Gaststube serviert seine Tochter neben anderen Köstlichkeiten eine Flundersuppe, die wirklich ein Erlebnis und für den Radler jetzt genau das Richtige ist. Bis Kühlungsborn wird es dann doch noch leicht hügelig (Kühlung kommt von Kuhle). Kurz führt der Ostseeküstenradweg auch über eine Panzerstraße, doch stets mit herrlichem Blick über das Meer.
Wer immer noch annimmt, dass Kühlungsborn etwas mit kühl zu tun hat, der könnte sich an diesen heißen Sommertagen in seinem Irrtum be- stätigt fühlen. Wegen der uralten Bäume, in deren Schatten sich die Hotels an der Standpromenade aneinanderreihen. Auch wegen des ausgedehnten Stadtwaldes, den die Feriengäste schon zu DDR-Zeiten zu schätzen wussten. Sie kommen übrigens immer noch, um hier Urlaub zu machen. „Gleich nach der Wende wurde befürchtet, dass alle nur noch ans Mittelmeer fahren, aber so war es nicht“, sagt Jan Grunwald, der hier aufgewachsen ist und die Gäste nun mit seinem Katamaransegler die Küste entlang schippert mit Blick auf die schön restaurierten Villen im Stil der Bäderarchitektur vom Beginn des letzten Jahrhunderts. Man kann vom Schiff aus aber auch den ehemaligen Grenzwachturm erkennen und daneben das kleine Freilichtmuseum mit Zeugnissen aus einer Zeit, als Menschen hier über die Ostsee in den Westen geflüchtet sind.
Großartige Backsteingotik
Reminiszenzen an eine aus heutiger Sicht fast heile Welt werden im nur 25 Fahrradminuten entfernten Seebad Heiligendamm wach, wo vor elf Jahren acht Staats- und Regierungs- chefs vor dem Grand Hotel in einem übergroßen Strandkorb friedlich nebeneinandersaßen. Heiligendamm ist das älteste Seebad überhaupt, 1793 von Großherzog Friedrich Franz von Mecklenburg auf Anraten seines Leibarztes gegründet, woraufhin er in der Tat sehr lange lebte, bevor er in der Gruft im Münster von Bad Doberan zur letzten Ruhe kam. Die im 13. Jahrhundert erbaute Kirche des ehemaligen Zisterzienserklosters gehört zu den großartigsten Bauwerken der norddeutschen Backsteingotik.
Hafen für Ozeanriesen
Auch sonst ist Bad Doberan mit den klassizistischen Villen und chinesisch anmutenden Pavillons rund um die ehemals herzogliche Sommerresidenz einen kleinen Abstecher abseits der Route wert, zumal er durch die längste Lindenallee Deutschlands führt. Zwischen Kühlungsborn und Bad Doberan verkehrt aber auch stündlich die Mecklenburgische Bäderbahn Molli. Die dampfgetriebene Schmalspurbahn mit Fahrradtransport kündigt ihre Ankunft mit nostalgischem Gebimmel an. Sie ist ein beliebtes Fotomotiv.
Kein Vergleich allerdings zu der Menge an Handyfotografen, die sich am selben Tag für ein Abschiedsbild von der AIDA im Warnemünder Hafen drängt. An- und Auslaufen der Ozeanriesen ist hier immer noch ein Spektakel, obwohl es hundertfach in einer Saison zu sehen ist, bis zu fünfmal am Tag. Manche Kreuzfahrer nutzen den Stopp für einen Halbtagesausflug nach Berlin. Naheliegender wäre eine Fahrradtour in den Gespensterwald, ein Naturwunder an der Steilküste vor Nienhagen. Doch eigentlich will man an diese Möglichkeit gar nicht erst denken.
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Die Recherche wurde unterstützt von „ Die Mecklenburger Radtour“.