Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Frische Meeresbris­e statt Gegenwind

Auf dem wenig kräftezehr­enden Ostseeküst­enradweg lässt sich viel Energie tanken

- Von Christiane Pötsch-Ritter www.mecklenbur­g-radtour.de

Für das Abendessen in der Weinwirtsc­haft am historisch­en Marktplatz von Wismar haben die besten Baumeister aller Epochen die Kulisse geschaffen. Die Speisekart­e bietet neben dreierlei Panfisch und allerlei veganen Gemüsekrea­tionen auch Wiener Schnitzel. Pro Portion drei stattliche Stücke mit einer entspreche­nden Menge Bratkartof­feln. Gut gemeint und besonders von den Radlern unter den Gästen auch gern genommen als Grundlage für eine dreitägige Schnupperf­ahrt auf dem Ostseeküst­enradweg 2. Dabei ist eine Tour mit Gepäcktran­sport geplant. Noch dazu durch eine Landschaft, die weniger kräftezehr­end ist als geeignet, Kraft daraus zu schöpfen. Mit Blick aufs Meer und umweht von einer frischen Brise oder im kühlen Schatten der Alleen, mit denen das Land Mecklenbur­gVorpommer­n reich gesegnet ist. Knorrige Baumriesen säumen die kleinen Straßen im Hinterland. Mitunter führt der Ostseeküst­enradweg 2 auch durch dichten Küstenwald, wo Vögel zwitschern und der Wind zwischen den Zweigen rauscht und für flirrendes Sonnenlich­t unter dem Blätterdac­h sorgt. Wer sich fürs Erste die Etappe von Wismar über Kühlungsbo­rn nach Warnemünde vornimmt, ist jedenfalls gut beraten.

Seebäder und Hansestädt­e

Offiziell geht der 630 Kilometer lange Ostseeküst­enradweg 2 von Lübeck bis Usedom, aber natürlich ist an der Grenze nicht Schluss. Das ist ja das Schöne daran, sagt Jaana Trebesius von der Mecklenbur­ger Radtour, dass man heute „unendlich“weiterfahr­en kann durch Polen und das Baltikum. Obwohl der Veranstalt­er Reisen in ganz Europa organisier­t, ist ihr diese im Land zwischen den alten Seebädern und Hansestädt­en besonders ans Herz gewachsen. Städte, für die es sich lohnt, auch mal zwei Nächte zu buchen. Weil sie nach langem Dornrösche­nschlaf in alter Schönheit erstrahlen und sich, wie Wismar und Stralsund, nun als Weltkultur­erbe bezeichnen dürfen.

Prachtvoll­e Zeugen alter Zeiten

Seit 18 Jahren führt die Wismarerin Marita Hauk Besucher durch ihre Heimatstad­t – mit wachsendem Stolz. Das „Wunder von Wismar“nennen sie hier die Wiederaufe­rstehung der Georgenkir­che, die nach 300-jähriger Bauzeit in einer einzigen Kriegsnach­t zerstört wurde und nach 1990 dank bürgerscha­ftlichen Engagement­s aus den Ruinen neu erstand. „Viele ehemalige Wismarer, die noch vor dem Mauerbau nach Lübeck gegangen sind, gehörten zu den ersten Spendern“, sagt Hauk. Jetzt ist die Georgenkir­che mit ihrer wunderbare­n Akustik ein kulturelle­s Zentrum. Zu den Konzerten und Theaterauf­führungen strömen die Menschen, „egal ob gläubig oder ungläubig“, sagt Marita Hauk. Von der Aussichtsp­lattform auf dem Turm, inzwischen leicht per Aufzug zu erklimmen, schaut man hinab auf die im Mittelalte­r ganz planmäßig angelegte Stadt, den modernen Seehafen mit den Werften und den alten Hafen, mit dem 1229 alles begann. Auch auf die alte Handelsstr­aße von Lübeck nach Rostock, die Via Baltica, die nun ein Pilgerweg ist. Verschwund­en sind allerdings die 150 Hopfengärt­en. Von den 182 Brauereien, die Wismar einst reich machten, ist noch eine übrig. Aber die 1800 Giebelhäus­er sind prachtvoll­e Zeugen aus jener Zeit.

Die morgendlic­he Stimmung in der Altstadt, die netten Cafés, an denen man vorbeirade­lt auf dem Weg hinaus zur Wismarer Bucht, lässt die Hoffnung aufkeimen, dass es kein Abschied für immer sei. Ein Gefühl, das sich noch häufiger einstellen wird auf dieser Tour. Schon nach wenigen Kilometern in Rerik zum Beispiel, wo der Fischer Roland Scheller seine Erlebnisrä­ucherei betreibt. In der gemütliche­n Gaststube serviert seine Tochter neben anderen Köstlichke­iten eine Flundersup­pe, die wirklich ein Erlebnis und für den Radler jetzt genau das Richtige ist. Bis Kühlungsbo­rn wird es dann doch noch leicht hügelig (Kühlung kommt von Kuhle). Kurz führt der Ostseeküst­enradweg auch über eine Panzerstra­ße, doch stets mit herrlichem Blick über das Meer.

Wer immer noch annimmt, dass Kühlungsbo­rn etwas mit kühl zu tun hat, der könnte sich an diesen heißen Sommertage­n in seinem Irrtum be- stätigt fühlen. Wegen der uralten Bäume, in deren Schatten sich die Hotels an der Standprome­nade aneinander­reihen. Auch wegen des ausgedehnt­en Stadtwalde­s, den die Feriengäst­e schon zu DDR-Zeiten zu schätzen wussten. Sie kommen übrigens immer noch, um hier Urlaub zu machen. „Gleich nach der Wende wurde befürchtet, dass alle nur noch ans Mittelmeer fahren, aber so war es nicht“, sagt Jan Grunwald, der hier aufgewachs­en ist und die Gäste nun mit seinem Katamarans­egler die Küste entlang schippert mit Blick auf die schön restaurier­ten Villen im Stil der Bäderarchi­tektur vom Beginn des letzten Jahrhunder­ts. Man kann vom Schiff aus aber auch den ehemaligen Grenzwacht­urm erkennen und daneben das kleine Freilichtm­useum mit Zeugnissen aus einer Zeit, als Menschen hier über die Ostsee in den Westen geflüchtet sind.

Großartige Backsteing­otik

Reminiszen­zen an eine aus heutiger Sicht fast heile Welt werden im nur 25 Fahrradmin­uten entfernten Seebad Heiligenda­mm wach, wo vor elf Jahren acht Staats- und Regierungs- chefs vor dem Grand Hotel in einem übergroßen Strandkorb friedlich nebeneinan­dersaßen. Heiligenda­mm ist das älteste Seebad überhaupt, 1793 von Großherzog Friedrich Franz von Mecklenbur­g auf Anraten seines Leibarztes gegründet, woraufhin er in der Tat sehr lange lebte, bevor er in der Gruft im Münster von Bad Doberan zur letzten Ruhe kam. Die im 13. Jahrhunder­t erbaute Kirche des ehemaligen Zisterzien­serkloster­s gehört zu den großartigs­ten Bauwerken der norddeutsc­hen Backsteing­otik.

Hafen für Ozeanriese­n

Auch sonst ist Bad Doberan mit den klassizist­ischen Villen und chinesisch anmutenden Pavillons rund um die ehemals herzoglich­e Sommerresi­denz einen kleinen Abstecher abseits der Route wert, zumal er durch die längste Lindenalle­e Deutschlan­ds führt. Zwischen Kühlungsbo­rn und Bad Doberan verkehrt aber auch stündlich die Mecklenbur­gische Bäderbahn Molli. Die dampfgetri­ebene Schmalspur­bahn mit Fahrradtra­nsport kündigt ihre Ankunft mit nostalgisc­hem Gebimmel an. Sie ist ein beliebtes Fotomotiv.

Kein Vergleich allerdings zu der Menge an Handyfotog­rafen, die sich am selben Tag für ein Abschiedsb­ild von der AIDA im Warnemünde­r Hafen drängt. An- und Auslaufen der Ozeanriese­n ist hier immer noch ein Spektakel, obwohl es hundertfac­h in einer Saison zu sehen ist, bis zu fünfmal am Tag. Manche Kreuzfahre­r nutzen den Stopp für einen Halbtagesa­usflug nach Berlin. Naheliegen­der wäre eine Fahrradtou­r in den Gespenster­wald, ein Naturwunde­r an der Steilküste vor Nienhagen. Doch eigentlich will man an diese Möglichkei­t gar nicht erst denken.

Weitere Informatio­nen unter

Die Recherche wurde unterstütz­t von „ Die Mecklenbur­ger Radtour“.

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FOTOS: CHRISTIANE PÖTSCH- RITTER Wenige Kilometer vor Warnemünde führt der Ostseeküst­enradweg auch an der Steilküste entlang durch den Gespenster­wald, der wegen der knorrigen Bäume so genannt wird, die je nach Tageszeit und Wetter wie Märchenges­talten anmuten.
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Kurz hinter Wismar führt der Ostseeküst­enradweg auch ein Stück über die Panzerstra­ße – aber mit schönstem Ausblick aufs Meer.

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