Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Mahner
Auch lange nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag sieht man ihn fast täglich auf dem Weg zu seinem Büro, auf das er als ehemaliger Bundestagspräsident Anspruch hat. Wolfgang Thierse ist auch ohne politisches Amt ein gefragter Interviewpartner.
Zuletzt erhob er nach den Vorfällen in Chemnitz seine Stimme und rief zu mehr Dialog auf. Thierse begründet sein politisches Engagement auch mit seinem Glauben: Er ist katholisch und seit Jahren einer der Sprecher des Arbeitskreises Christen in der SPD. Heute wird er 75 Jahre alt.
Dabei wurde Thierse erst spät parteipolitisch aktiv: 1943 in Breslau geboren, siedelte sich seine Familie nach der Vertreibung im thüringischen Eichsfeld an. Der Sohn machte zunächst eine akademische Karriere. Nach dem Abitur studierte er Germanistik und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Karriere im Ministerium für Kultur der DDR endete 1975, als er sich weigerte, eine Erklärung zu unterzeichnen, die die Ausbürgerung des Liedermachers und Regimekritikers Wolf Biermann unterstützen sollte. Thierse kehrte in die Wissenschaft zurück.
Politisch engagierte sich Thierse ab der Wende 1989. „Demokratie gelernt“hat er nach eigenem Bekunden aber bereits in den Diskussionen in katholischen Jugendgruppen. Nach dem Ende des SED-Regimes trat er der Bürgerbewegung Neues Forum bei und wurde schließlich Anfang 1990 Mitglied der SPD. Im selben Jahr kam Thierse in den ersten gesamtdeutschen Bundestag. Höhepunkt seiner politischen Karriere war seine Wahl zum Bundestagspräsidenten acht Jahre später. In diesem Amt wurde er 2002 bestätigt.
Wolfgang Thierse engagiert sich auch im Zentralkomitee der Katholiken. Mit christlichen Grundüberzeugungen und Werten lasse sich das, was die AfD ausmache, nicht vereinbaren, so Thierse. Er sei eine „kurios kostbare Mischung“, sagt Thierse über sich selbst. Ein Mahner bleibt er vermutlich auch in Zukunft. Birgit Wilke (KNA)