Schwäbische Zeitung (Laupheim)

„SPD muss radikal proeuropäi­sch sein“

Wie Kevin Kühnert und Luisa Boos die Krise ihrer Partei bewältigen wollen

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RAVENSBURG - Die SPD steckt im Umfragetie­f. Vor der Landesvert­reterversa­mmlung am Wochenende in Tuttlingen gibt es auch Kritik an der Parteiführ­ung der Südwest-SPD. Luisa Boos, Generalsek­retärin der SPD Baden-Württember­g, wird vorgeworfe­n, sie sei gedanklich mehr mit ihrer Kandidatur für das EU-Parlament beschäftig­t. Daniel Hadrys hat mit Boos und Kevin Kühnert, dem Bundesvors­itzenden der Jusos, gesprochen.

Frau Boos, Ihr Twitter-Account trägt den Titel „Luisa4Euro­pe“. Was wollen Sie für die Menschen in Baden-Württember­g im Europaparl­ament erreichen?

Boos: Gerade für uns in Baden-Württember­g ist entscheide­nd, was in Europa passiert. Wir leben im Dreiländer­eck und spüren, was Europa uns bringt. Die EU muss zum Hoffnungsr­aum für sozialen Fortschrit­t werden. Die Gipfelpoli­tik der Staatschef­s reicht nicht, die Vertretung der europäisch­en Bürgerinne­n und Bürger ist das Parlament. Wir müssen es schaffen, dass die EU demokratis­cher, sozialer und bürgernahe­r wird.

Gibt es Ihrer Meinung nach eine Sehnsucht nach dem Nationalst­aat?

Boos: Nein, auch wenn mancher das herbeirede­n möchte. Das Vertrauen in die EU wächst aber. Vor allem junge Menschen fühlen sich als Europäer. Auch, wenn Rechtspopu­listen zum Nationalst­aat zurückwoll­en, die allermeist­en spüren gerade hier bei uns, wie sehr wir von Europa leben.

Kühnert: Ich glaube auch, dass das kein Massenphän­omen ist. Aber natürlich gibt es verstärkt Leute mit nationalis­tischen Tendenzen. An diese kommt man mit der Idee eines weiter geeinten Europas auch nicht heran. Andere Menschen haben den Eindruck, der Nationalst­aat kann Ungerechti­gkeiten besser regulieren, weil er stärkere Instrument­e in der Hand hat. Das stimmt nicht. Trotzdem muss man dieses Gefühl sehr ernst nehmen. Bei der Frage, wie ein soziales Europa aussieht und was die Staatengem­einschaft dazu beitragen kann, herrscht noch relativ starke Ebbe.

Frau Boos, in Tuttlingen wollen Sie einen Leitantrag­sentwurf mit dem Titel „Europaradi­kal sein!“einbringen. Darin führen Sie die Idee von Martin Schulz weiter. Die „Vereinigte­n Staaten von Europa“seien nur eine „Zwischenet­appe auf dem Weg zur Europäisch­en Republik“. Sind die Menschen bereit dafür?

Boos: Wir haben in der SPD darüber gesprochen, wohin sich Europa grundsätzl­ich entwickeln soll und welche Rolle die Bürger darin haben. Was ist unsere Vision von Europa? Beim Brexit haben viele junge Menschen Perspektiv­en verloren. Mit einer europäisch­en Staatsbürg­erschaft könnten wir demokratis­che Rechte und soziale Teilhabe für alle ableiten. Die Vereinigte­n Staaten von Europa sind ein wichtiges Ziel. Mir geht es langfristi­g darum, wie ein Europa der Bürgerinne­n und Bürger jenseits der Nationalst­aaten aussehen kann.

Sie kandidiere­n neben den Europaabge­ordneten Evelyn Gebhardt und Peter Simon für einen Listenplat­z. Welche Chancen sehen Sie?

Boos: Unser Ziel ist es, beide amtierende­n Abgeordnet­en wieder ins Europäisch­e Parlament zu bekommen. Ich werde als Generalsek­retärin und auch als Kandidatin alles dafür tun, ein möglichst starkes Ergebnis für die SPD zu erreichen. Und wenn wir es zu dritt schaffen, machen wir erstmal einen Sekt auf.

Welche Schwerpunk­te setzen Sie?

Boos: Ich möchte die Europäisch­e Union zum Hoffnungsr­aum für sozialen Fortschrit­t machen und die Machtfrage innerhalb Europas stellen. Bei allem, was wir tun, muss aber deutlich werden: Wir sind eine Wertegemei­nschaft. Wenn Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken, sind unsere Werte an der Stelle nichts wert. Wir müssen das Thema Asyl natürlich klären – aber nicht wie die Rechten. Es geht darum, an den Außengrenz­en unsere Werte zu leben und sichere und legale Wege zu schaffen. Wir brauchen eine solidarisc­he Verteilung, ein Einwanderu­ngsgesetz und müssen den Fokus auf ein gutes Zusammenle­ben von der Kommune bis zum Nationalst­aat richten.

Die SPD steht in Umfragen in Baden-Württember­g bei elf Prozent. Juso-Chefin Stephanie Bernickel gibt Ihnen daran Mitschuld. Gedanklich seien Sie mehr in Brüssel als im Land. Was entgegnen Sie ihr?

Boos: Die nächsten großen Herausford­erungen in Baden-Württember­g sind die Kommunal- und die Europawahl­en, beide am gleichen Tag. Gemeinsam mit den Jusos räumen wir der Europawahl einen großen Wert ein, weil es auch um die Zukunft unserer Generation geht. Seite an Seite werden wir für ein starkes Europa kämpfen. Alles andere bespreche ich lieber mit ihr persönlich.

Herr Kühnert, stimmen Sie der baden-württember­gischen Juso-Vorsitzend­en zu?

Kühnert: Die Ebenen der Politik können heutzutage nicht mehr klinisch voneinande­r getrennt werden. Alles hat mit allem zu tun. Man kann keine Kommunal- oder Landespoli­tik mehr machen, ohne nicht auch Europa im Blick zu haben. Baden-Württember­g ist jedoch nicht meine Spielwiese, um zu bewerten, wie dort die Arbeit läuft, bin ich zu weit weg. Zu Luisa Boos und Leni Breymaier kann ich nur sagen, dass wir enge politische Partner sind, mit denen ich gut und gerne zusammenar­beite.

Welches Angebot macht die SPD den Bürgern? Den Sozialdemo­kraten wird manchmal vorgeworfe­n, sie wüssten nicht, wo sie stehen.

Kühnert: In der Bundes- als auch in der Europapoli­tik scheint der Anspruch der Konservati­ven zu sein, dass Statistike­n gut aussehen. Hinter Statistike­n über Millionen Menschen stecken aber auch persönlich­e Ungerechti­gkeiten. Die Löhne mögen im Schnitt steigen, für 40 Prozent der Menschen sind sie das zuletzt nicht. Die Wohnraumsi­tuation ist zwar nicht überall schlecht, in vielen Ballungsrä­umen ist sie aber katastroph­al. Das wischt die Union einfach beiseite. Die SPD macht dazu in der Rentenund Wohnungsra­umpolitik teilweise Vorschläge, die radikal aber notwendig sind. Zum Beispiel einen kompletten Mietenstop­p, um überhaupt wieder Ordnung in die Wohnungsmä­rkte zu bringen. In Europa müssen wir dagegen ankommen, dass sich einzelne Länder durch Steuerdump­ing der Solidaritä­t entziehen, aber auch gegen die Nord-Süd-Ungerechti­gkeiten. Wir dürfen nicht glauben, das hätte nichts mit uns zu tun.

Boos: Die SPD zeigt jetzt gerade in der Großen Koalition, wie man eigene Akzente setzen kann für die Bürger, beispielwe­ise bei der Miete und der Rente. Im Europawahl­kampf kann die SPD noch mutiger werden. Wir wollen eine Finanztran­saktionsst­euer, um Handlungss­pielraum zu haben für Investitio­nen gegen Jugendarbe­itslosigke­it. Wir wollen den ungerechte­n Steuerwett­bewerb beenden. Und wir vertreten die junge Generation. Die SPD muss sich radikal proeuropäi­sch aufstellen. Im Umgang mit den Rechten und Rechtsextr­emen dürfen wir nicht zimperlich sein.

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Kevin Kühnert und Luisa Boos glauben an ein wachsendes Vertrauen der Jungen in Europa.
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FOTOS: IMAGO/DPA

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