Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Ohne ihn sähe das Münster heute anders aus

Ulrich von Ensingen war am Bau der Kirche beteiligt – Dafür hatte er sogar eine Stelle in Mailand ausgeschla­gen

- Von Dagmar Hub

ULM - Es sei ihm wohl gut gelungen, das Himmelsstü­rmende auf Papier zu bringen. Aber „es zu lesen, war eine Herausford­erung!“. Sympathisc­h, genial und auch selbstkrit­isch – so stellt der Ulmer Dietmar Raschke Münsterbau­meister Ulrich von Ensingen dar, der am 10. Februar 1419 in Straßburg starb, vor 600 Jahren also. Das Ulmer Münster würdigt das Architektu­r-Genie des Mittelalte­rs aktuell sogar mit einer Gedenk-Todesanzei­ge, die Mesner Eberhard Roller gestaltete – und mit Führungen, in denen Dietmar Raschke als Ulrich von Ensingen mehrfach in diesem Jahr im historisch­en Gewand und aus der Ich-Perspektiv­e des Baumeister­s durchs Münster führt. Die Stadt Ulm selbst benannte eine aufs Münster zuführende Straße und eine Gemeinscha­ftsschule nach dem vierten Baumeister des Ulmer Münsters, dessen visionäre Ideen das Gebäude heute prägen.

Ohne Ulrich von Ensingen sähen Gotteshaus und Hauptturm ganz anders aus – eine Hallenkirc­he mit drei Schiffen und drei Türmen in jeweils gleicher Höhe hatten die Vorgänger von Ensingens, drei Mitglieder der im Mittelalte­r sehr erfolgreic­hen schwäbisch­en Baumeister-Familie Parler, geplant. Doch ihr Schüler, der bei der Familie Parler fünf Jahre lang in die Lehre gegangen war, wuchs weit über sie hinaus, denn Pläne anderer setzte Ulrich von Ensingen nicht gerne um. Was er plante, war visionär, auch wenn er wusste, dass er die Vollendung seiner Ideen nicht erleben würde. Ulrich von Ensingen, Münsterbau­meister von 1392 (und damit 15 Jahre nach Baubeginn des Münsters) bis mindestens 1417, bescherte Ulm die Turmvorhal­le und die Pläne für den Westturm, dessen unterer Teil mit dem Hauptporta­l sein Werk ist. Er vollendete die beiden Chortürme und zog die Seitenschi­ffe des Langhauses höher als geplant. Von Ensingen war Baumeister zur Zeit der Weihe des Ulmer Münsters – und wie Dietmar Raschke vermutet, konnte von Ensingen auch gut mit Lutz Krafft, der mehrere Male Ulmer Bürgermeis­ter war und der 1377 den Grundstein für das Ulmer Münster gelegt hatte.

Auch an der Baustelle des Mailänder Doms hatte man von Ensingen verpflicht­en wollen, doch der entschied sich nach einem kurzen Schnupperv­ersuch in Mailand für Ulm – weil man ihm hier freie Hand für seine hochfliege­nden Pläne ließ, während er in Mailand die Ideen anderer hätte realisiere­n müssen. Seine Anstellung in Ulm war wohl eine Verpflicht­ung auf Lebzeiten; zu seinem stattliche­n Salär kamen – wie man heute weiß – Wohnen, Brennholz und Wein gratis hinzu. Ob er sich das Recht, quasi auf mehreren Hochzeiten zu tanzen, selbst herausnahm, oder ob es ihm gestattet war, gleichzeit­ig auch in Straßburg Werkmeiste­r zu sein und an Münstern oder Domen in Basel, Bern, Frankfurt und Esslingen mitzuplane­n, ist ungeklärt. Ähnlich unklar ist die Frage, wann – und wo – von Ensingen geboren wurde. Vermutet wird, dass er aus Oberensing­en bei Nürtingen stammt, das im Mittelalte­r bekannt war für seine Steinbrüch­e mit Stubensand­stein, mit dem Steinmetze arbeiteten. Doch gesichert ist das nicht; als Geburtsjah­r wird aufgrund seiner Steinmetzl­ehre in Esslingen etwa das Jahr 1362 angenommen. Daraus würde resultiere­n, dass er ungefähr 57 Jahre alt war, als sein Knecht am 10. Februar 1419 Kleidung und Harnisch des Verstorben­en in die Straßburge­r Münsterbau­hütte brachte, deren Leiter er zu jener Zeit gewesen war. Die Leitung der Ulmer Münsterbau­hütte hatte von Ensingen vermutlich schon 1417 an seinen Schwiegers­ohn Hans Kun übertragen. Dessen Ehefrau Anna, Ulrich von Ensingens Tochter, war ebenso wie ihr Bruder Matthäus an der Münsterbau­hütte tätig, Matthäus wurde nach Annas Sohn Kaspar Münsterbau­meister.

Eine von Hermann Lang 1911/12 geschaffen­e steinerne Säulenfigu­r von Ensingens im Ulmer Münster, die ihn mit Steckzirke­l, Winkelmaß und einem Turm-Entwurf zeigt, stellt den Stararchit­ekten der Gotik als jungen Mann dar. Im Turm des Straßburge­r Münsters gibt es ein steinernes Selbstport­rät von Ensingens, das ihn gealtert und mit Falten in den Wangen zeigt.

Dass Baumeister an großen Kirchen die Realisieru­ng ihrer Werke nicht erleben, wusste von Ensingen. Der Hauptturm des Münsters wurde erst 1890 vollendet – dafür aber 11,53 Meter höher, als ihn sich der Baumeister erträumt hatte.

 ?? FOTO: DAGMAR HUB ?? Der Ulmer Dietmar Raschke führt verkleidet als Ulrich von Ensingen durchs Ulmer Münster.
FOTO: DAGMAR HUB Der Ulmer Dietmar Raschke führt verkleidet als Ulrich von Ensingen durchs Ulmer Münster.

Newspapers in German

Newspapers from Germany