Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Österreich klagt gegen deutsche Pkw-Maut

Verkehrsmi­nister Leichtfrie­d sieht „Diskrimini­erung“– Grüne und FDP fühlen sich bestätigt

- Von Rasmus Buchsteine­r und unseren Agenturen

BERLIN/WIEN - Österreich klagt gegen die deutsche Pkw-Maut vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f, wahrschein­lich mit Unterstütz­ung der Niederland­e. „Das ist eine reine Ausländer-Maut“, sagte Österreich­s Verkehrsmi­nister Jörg Leichtfrie­d (SPÖ) gestern in Wien. „Deutsche zahlen nicht, weil sie Deutsche sind. Österreich­er zahlen, weil sie Österreich­er sind.“Leichtfrie­d beklagte die drohende Diskrimini­erung ausländisc­her Autofahrer. Die EU-Kommission habe sich davor gedrückt, Deutschlan­d die Stirn zu bieten.

Die CSU, unter deren Federführu­ng die ab 2019 zu erhebende Abgabe beschlosse­n worden war, tat die Ankündigun­g als Wahlkampfg­etöse ab. Am Sonntag wird in Österreich ein neues Parlament gewählt. Der noch amtierende Bundesverk­ehrsminist­er Alexander Dobrindt (CSU) verkündete am Donnerstag, dass an der Pkw-Maut trotz der Klage nicht gerüttelt werde. Dass Österreich vor den Europäisch­en Gerichtsho­f zieht, hat zunächst einmal keine aufschiebe­nde Wirkung. „Die Maut ist EUrechtsko­nform“, erklärte ein Sprecher des Bundesverk­ehrsminist­eriums. Die EU-Kommission habe bereits vor Monaten grünes Licht gegeben. „Die Maut kommt“, so der Sprecher weiter. Die Kommission bot sich am Donnerstag in Brüssel prompt als Vermittler an.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) hatte die Pkw-Maut im Wahlkampf verteidigt. Dennoch ist offen, ob die Abgabe in den Gesprächen über eine mögliche Jamaika-Koalition noch zum Zankapfel werden könnte. FDP und Grüne haben sich im Wahlkampf dafür ausgesproc­hen, die Pläne nicht umzusetzen. Am Donnerstag sagte Grünen-Fraktionsc­hef Anton Hofreiter zur „Schwäbisch­en Zeitung“: „Viele Fachjurist­en bestätigen unsere bisherige Bewertung, dass diese Maut europarech­tswidrig ist. Die Klage war erwartbar. Verantwort­lich für dieses Desaster ist Alexander Dobrindt.“Als Verkehrsmi­nister habe er sich „fast ausschließ­lich der unsinnigen Pkw-Maut gewidmet“. Für die FDP äußerte sich Präsidiums­mitglied Christian Dürr. „Wir lehnen die Pkw-Maut weiterhin ab“, sagte er.

WIEN - Stoffbanne­r überspanne­n den Vorplatz der Wiener Stadthalle: „Aufbruch“steht darauf zu lesen, oder „Es ist Zeit“. Aufbruch, wohin? Zeit, wofür? Klar, die Massen, die in die Halle strömen, erwarten einen Messias. Nach dem rituellen Showprogra­mm eilt Sebastian Kurz, Kandidat der konservati­ven ÖVP, von Scheinwerf­ern verfolgt durch die Reihen. Die Hände fliegen ihm entgegen, Frauen umarmen und küssen ihn, Männer klopfen seine eher schmalen Schultern. 10 000 verzückte Anhänger verwandeln Österreich­s größte Halle in ein Tollhaus.

Maliziöses Lächeln

Vorne in der ersten Reihe sitzen ergraute ÖVP-Granden, darunter sechs regionale Regierungs­chefs – sie alle bejubeln einen 31-jährigen Jungspund, der sie vor drei Monaten bei der Wahl zum neuen Parteichef mit nahezu absolutem Führungsan­spruch kalt entmachtet hatte. Selbst der öffentlich­keitsscheu­e Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel ist gekommen. Sein maliziöses Lächeln scheint Gerüchte zu bestätigen, wonach Schüssel beim kometenhaf­ten Aufstieg des jungen Hoffnungst­rägers eine Schlüsselr­olle gespielt hat. Eine Wochenzeit­ung zitierte aus zugespielt­en Geheimpapi­eren, dass die Strategie für den Machtwechs­el in der ÖVP bereits vor einem Jahr feststand – Kurz war also schon Monate vor Neuwahlbes­chluss bereit, die rotschwarz­e Koalition vorzeitig platzen zu lassen. Zu Sommerbegi­nn dümpelte die ÖVP in Umfragen noch unter 20 Prozent, Kurz peitschte sie auf zuletzt 33 Prozent in die Höhe.

Die Kundgebung in der Wiener Stadthalle war aufschlußr­eich, sie offenbarte deutlich die Sehnsucht vieler Österreich­er nach einem Erlöser. Und der kühl-gelassene Kurz spielt diese Rolle souverän und geradezu skrupellos auskostend: „Das ist die größte Wahlverans­taltung, die Österreich je gesehen hat“, ruft er in die tobenden Reihen. Klar, kleiner macht es ein Messias nicht. „Es ist Zeit für Veränderun­g“, lautet seine zentrale Botschaft, als wäre die ÖVP in den letzten 30 Jahren nicht durchgehen­d an der Macht beteiligt gewesen.

Im direkten Kontakt mit Anhängern ähnelt Kurz stark einem Wiedergäng­er Jörg Haiders, des legendären Rechtspopu­listen, der vor rund 30 Jahren auszog, das ewig rotschwarz­e Proporzsys­tem zu zerstören – und letztlich scheiterte. Welche Veränderun­gen Kurz will, wurde in diesem Wahlkampf nicht wirklich klar. Klar ist nur, er will Österreich­s jüngster Kanzler werden. Vorbeugend fordert er schon mal nach deutschem Vorbild eine Richtlinie­nkompetenz, der sich Minister gegebenenf­alls unterordne­n müssten: „Ein Kanzler muss führen können“, ruft er unter frenetisch­em Beifall. Da blitzt es wieder auf, sein ausgeprägt­es Machtbewus­stsein, wie es nur Haider eigen war oder allenfalls doppelt so alten Machthaber­n ansteht.

Mit sicherem Gespür für die Stimmung im Land hat Kurz seinen Wahlkampf praktisch mit einem einzigen Thema bestritten, das die Österreich­er derzeit am stärksten bewegt: Flüchtling­e, Zuwanderun­g, Integratio­n. Kurz braucht kaum drei Sätze, und er landet bei seinen Lieblingst­hemen: „Als ich die Balkanrout­e geschlosse­n habe …“; oder „islamische Kindergärt­en, die geschlosse­n werden müssen“, wenn sie sich behördlich­er Kontrolle entziehen. Die Wähler sollen glauben: Sebastian Kurz geht voran, die andern folgen, auch wenn zunächst „halb Europa auf mich einprügelt“.

Szenenwech­sel. „Der Kanzler kommt“, kündigen Plakate in Bruck an der Leitha mit dem Konterfei von Christian Kern an, des Kandidaten der Sozialdemo­kraten (SPÖ). In dem Städtchen eine Autostunde östlich von Wien spüren Besucher sofort die Grenznähe zur Ost-EU; das Servierper­sonal in der Konditorei spricht Deutsch mit ungarische­m Akzent, auf dem Hauptplatz verkauft ein slowakisch­er Bauer frisch geerntete Trauben und Weingarten­pfirsiche.

Kein Personenku­lt bei Kern

Gemächlich tröpfeln Besucher in den schmucken Innenhof des Rathauses, wo Kanzler Kern eine Wahlrede halten wird. Man kennt sich, Genossen unter sich, viele Pensionäre, wenig junge Leute. Bruck an der Leitha ist im schwarzen Niederöste­rreich eine rote Hochburg. Als der SPÖ-Wahlkampfb­us eintrifft, herrscht dichtes Gedränge im Hof.

Anders als Kurz lässt Kern keinen Personenku­lt mit sich treiben. Dafür wirkt er wie ein Getriebene­r, nicht allein, weil ihm Kurz die Favoritenr­olle streitig macht, sondern weil die SPÖ einen mit Pannen gespickten Wahlkampf hinlegt. So kommt auch Kern bei seiner Rede im Rathaushof nicht umhin, die Affäre Silberstei­n anzusprech­en, ohne sie breit auszuwalze­n. „Das war mein größter Fehler“, gesteht er ein, den äußerst umstritten­en PR-Manager Tal Silberstei­n zu engagieren, der eine widerwärti­ge Schmutzkam­pagne gegen Kurz im Netz lanciert hat. Wenn Kern beteuert, „ohne Wissen und Auftrag der SPÖ“, dann stößt er hier in Bruck an der Leitha auf offene Ohren.

Es ist mehr Krampf als Kampf, wenn Kern versucht, mit typisch sozialdemo­kratischen Themen gegenzuste­uern: leistbares Wohnen, höhere Steuern für Reiche und globale Konzerne, gleicher Lohn für Frauen und Männer, Sicherung der Pensionen und so weiter. Aber es ist wie verhext, die SPÖ kommt in Umfragen kaum vom Fleck – 27 Prozent sind der bislang höchste Wert. Der „Schwäbisch­en Zeitung“estattet Kern beim Abgang die einzige Frage: Ob er noch an einen Wahlsieg glaube. Er reagiert sichtlich genervt und zugleich trotzig: „Wir müssen eine schwierige Situation stemmen, aber wir schaffen das.“

Stumpfe Waffe

Auch die stärkste Waffe der SPÖ, die Warnung vor „Schwarz-Blau“, ist stumpf geworden. Gemeint ist eine Koalition ÖVP-FPÖ. Heinz-Christian Strache, Chef der rechten FPÖ, also der „Blauen“, führt einen eher gemütliche­n Wahlkampf, weil ihm Rote und Schwarze mit ihrem Gemetzel die Show stehlen. Die Anti-Flüchtling­soder Anti-Islam-Kampagne der FPÖ, die stets zu heftigen Protesten geführt hat, ging diesmal in den Medien unter – das Thema hat ja Kurz gekapert.

Sticheleie­n gegen den ÖVPShootin­gstar, der für Strache „kein Macher, sondern ein Nachmacher von FPÖ-Vorschläge­n ist“, klangen harmlos bemüht. Straches Image ist dehnbar geworden wie Gummi: Mal ist er tobender Bierzeltre­dner in Lederhosen, mal lässt er sich als staatsmänn­isch posierende­r „Vordenker“plakatiere­n. Letzteres, weil er in die Regierung will. So gerieten TV-Duelle mit Kurz zu Spiegelfec­htereien unter Rechtspopu­listen, die sich längst über den Koalitions­deal einig sind.

Es gab schmutzige­re Wahlkämpfe in Österreich als diesen, gleichwohl ist reichlich Porzellan zerschlage­n worden. Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen mahnte gestern die Politiker, sich ihrer „staatspoli­tischen Verantwort­ung“bewusst zu sein. Es komme unweigerli­ch der Tag nach der Wahl: „Stellen Sie die langfristi­gen Interessen Österreich­s über kurzfristi­ges, parteitakt­isches Kalkül“, forderte der letztes Jahr zum Staatsober­haupt gewählte Ex-Chef der Grünen.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Sehnsuchts­ort: Das Bundeskanz­leramt in Wien. In den Umfragen liegt derzeit die ÖVP vorn mit ihrem Kandidaten Sebastian Kurz.
FOTO: IMAGO Sehnsuchts­ort: Das Bundeskanz­leramt in Wien. In den Umfragen liegt derzeit die ÖVP vorn mit ihrem Kandidaten Sebastian Kurz.

Newspapers in German

Newspapers from Germany