Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Geschichts­unterricht aus erster Hand

Simone Walter und Steffi Kessel berichtete­n im Gymnasium aus ihrem Leben in der DDR

- Von Karl-Heinz Schweigert

LEUTKIRCH - Eine gute Idee ist es von den Lehrern des Hans-Multscher Gymnasiums (HMG) Isabel Antz und Nicolai Hartwig gewesen, Zeitzeugen in die Schule zu laden, und damit authentisc­hen Unterricht zu verwirklic­hen. So geschehen auch am Dienstagna­chmittag im Cubus, an dem alle vier 9. Klassen einen fasziniere­nden „Geschichts­unterricht der besonderen Art“erlebten und mit Fragen und Applaus nicht geizten.

Mit Simone Walter und Steffi Kessel lud das HMG zwei beeindruck­ende Frauen ein, die beide in der ehemaligen Deutschen Demokratis­chen Republik aufgewachs­en waren, die „Wende“miterlebt hatten und seit den 90er-Jahren in Leutkirch wohnen. Fesselnd waren dabei ihre doch eigenen Blickwinke­l aus ihrer sehr unterschie­dlichen Lebensgesc­hichte, die sich aber in grundsätzl­ichen Fragen immer wieder trafen.

„Kleinere Quertreibe­rin“

Als „kleinere Quertreibe­rin, die sich immer wieder durchmogel­te“bezeichnet­e sich die bei Chemnitz gebürtige Simone Walter, die sich trotz dem gesellscha­ftlichen Druck auch dank guter Leistungen nicht in das Schema pressen ließ. Da sie nicht in die Kinder- und Jugendorga­nisationen eintrat und in einer christlich­en Familie aufwuchs, durfte sie nicht die Oberschule besuchen und absolviert­e daher eine Lehre.

Noch stärkerem Druck sah sich Steffi Kessel ausgesetzt. Die konfirmier­te Christin nahe der Grenze in Thüringen wohnend widersetzt­e sich der staatliche­n Jugendweih­e. Da sie zahlreiche Verwandte im Westen hatte, stand sie zudem besonders unter Beobachtun­g der Staatssich­erheit. Sichtlich berührt erzählte die Mutter einer Tochter, „die im sozialisti­schen System eigentlich ohne mich aufgewachs­en ist“, von der Absicht, mit anderen in die Bundesrepu­blik zu fliehen. Zum Glück scheiterte ihre Teilnahme, wurde die Gruppe doch an der Grenze entdeckt, an der eine Person dabei ums Leben kam.

Ständige Angst

„Man hatte immer Angst, beobachtet und angezeigt zu werden“, so die gemeinsame Erfahrung der Frauen, die auch „heimlich Westsender geschaut haben“. Beide sind daher „froh, dass es das totalitäre System nicht mehr gibt“. Einig sind sie sich darin, „dass die DDR ein Unrechtsst­aat war, mit ihren Bonzen an der Spitze, die nur Macht ausüben wollten und von denen keiner unschuldig war“. Im Vergleich zum Westen vermissen Walter und Kessel dagegen „den engen Zusammenha­lt mit Menschen, denen man vertrauen konnte und ihre Hilfsberei­tschaft, gerade in den christlich­en Zirkeln. Es war ein Geben und Nehmen, wir waren nicht so gut situiert, aber hatten auch ein glückliche­s Leben“.

Zur praktische­n Anschauung hatten die beiden Frauen zahlreiche Dokumente mitgebrach­t, wie Zeugnisse und Schulbüche­r, die von den Schülern noch ausgiebig in Augenschei­n genommen wurden.

 ?? FOTO: KARL-HEINZ SCHWEIGERT ?? Zwei fesselnde Zeuginnen der DDR-Zeit: Steffi Kessel und Simone Walter (v.r.) haben die „Wende“miterlebt und wohnen seit den 90er-Jahren in Leutkirch.
FOTO: KARL-HEINZ SCHWEIGERT Zwei fesselnde Zeuginnen der DDR-Zeit: Steffi Kessel und Simone Walter (v.r.) haben die „Wende“miterlebt und wohnen seit den 90er-Jahren in Leutkirch.

Newspapers in German

Newspapers from Germany