Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Kampf gegen Adipositas

Die Deutschen werden immer dicker – Auch viele Kinder sind betroffen

- Von Dominik Prandl

WANGEN - Wenn Bella nach der Schule nach Hause kommt, ist es, als höre sie eine Stimme in ihrem Kopf, die sagt: „Geh jetzt und hol dir was zu essen.“Heimlich schleicht sich die 15-Jährige dann in die Küche und stopft sich Essbares in ihre Taschen, um es in ihrem Zimmer zu verschling­en. „Ich habe sogar schon gefrorene Kroketten gegessen. Das ist zwar ekelhaft, aber in dem Moment egal“, sagt sie. Durch ihre Essattacke­n hat Bella stark zugenommen und gehört mittlerwei­le zu den sechs Prozent der Kinder in Deutschlan­d, die von Adipositas, also starkem Übergewich­t, betroffen sind. Auch Erwachsene werden hierzuland­e und weltweit immer dicker – meist leiden sie darunter psychisch. Übermäßig viele Kilos ziehen zudem Folgeerkra­nkungen nach sich.

An der Rehabilita­tionskinde­rklinik in Wangen will man der Entwicklun­g frühzeitig entgegenwi­rken. Die Klinik ist auf Adipositas spezialisi­ert. 408 Kinder und Jugendlich­e aus ganz Deutschlan­d kamen 2016 hierher, um etwas gegen ihre Fettleibig­keit zu tun. Im Schnitt dauert ihre Reha fünf Wochen. Bella, die eigentlich anders heißt, hat ihre Reha selbst in die Wege geleitet. „Ich will das Problem beheben, weil ich mich nicht wohlfühle“, sagt sie. „In der Kabine beim Shoppen raste ich aus, weil ich mich nicht hübsch finde.“Wie viel sie heute wiegt, will sie lieber nicht sagen. Erzählt aber, dass sie vor einem halben Jahr, als ihr Opa gestorben ist, allein in zwei Monaten 20 Kilo zugenommen hat.

Meist genetisch veranlagt

Die Ursachen für Adipositas sind vielfältig. Die meisten adipösen Menschen hätten die genetische Veranlagun­g zum Übergewich­t, sagt Dirk Dammann, Chefarzt der Wangener Rehaklinik. Zudem lebten wir heute in Verhältnis­sen, in denen körperlich­e Aktivität weniger notwendig sei, sagt der Wangener Therapiele­iter Robert Jaeschke. So arbeiten wir häufig in Büros, nehmen meist eher den Fahrstuhl als die Treppe und in der Freizeit wird gerne ferngesehe­n. Dass die psychische Situation wie bei Bella Auswirkung auf das Gewicht hat, kommt aber auch vor.

Darüber hinaus seien Menschen besonders gefährdet, wenn sie einen niedrigen Bildungsst­and hätten, in Armut lebten oder einen Migrations­hintergrun­d aufweisen würden, sagt Dammann. Weil mittlerwei­le klar ist, dass starkes Übergewich­t nicht nur durch Bewegung und gesunde Ernährung bekämpft werden kann, wird an der Klinik in Wangen auch die psychische Komponente berücksich­tigt. Es gehe vor allem darum, dass sich etwas im Kopf ändert, eine Bewusstsei­nsänderung stattfinde­t, erklärt Klinikleit­er Alwin Baumann.

Laut aktuellem Bericht der Deutschen Gesellscha­ft für Ernährung (DGE) in Bonn sind 59 Prozent der Männer und 37 Prozent der Frauen in Deutschlan­d übergewich­tig. Besorgnise­rregend sei der Anstieg von Adipositas, also starkem Übergewich­t: Von 1999 bis 2013 habe der Anteil adipöser Männer um 40 Prozent und der extrem dicker Frauen um 24,2 Prozent zugenommen – laut Robert-Koch-Institut ist mittlerwei­le ein Viertel der Erwachsene­n hierzuland­e stark übergewich­tig. Chefarzt Dammann spricht von einer „Volkskrank­heit“, weil Adipositas eine Reihe von Folgeerkra­nkungen noch Jahrzehnte später nach sich ziehe: etwa Bluthochdr­uck, Diabetes, Gelenkund auch Herzproble­me. Mittlerwei­le würden schon Kinder an Diabetes vom Typ 2 erkranken, früher habe das hingegen nur Ältere betroffen. Adipöse Menschen haben überdies eine geringere Lebenserwa­rtung – zehn Jahre kürzer als normalgewi­chtige Menschen leben sie, so das Ergebnis eines groß angelegten internatio­nalen Forschungs­projekts um Emanuele Di Angelanton­io von der Universitä­t Cambridge.

„Wir haben in der Vergangenh­eit ganz viel Adipösen unrecht getan, haben gesagt: ,Reiß dich zusammen.’ So einfach ist es aber nicht“, sagt Dammann. Je genetische­r die Ursache, desto schwierige­r sei es, etwas dagegen zu tun, erklärt Therapiele­iter Jaeschke. Den Kindern werde in der Klinik klargemach­t, dass sie ihr ganzes Leben lang am Ball bleiben müssten. „Es ist ein harter Kampf.“Nur die Ernährung umzustelle­n, führe lediglich zu kurzfristi­gen Erfolgen. Ohnehin gilt: Nach der Diät ist vor der Diät. Denn durch den Jo-JoEffekt sind die Kilos schnell wieder zurück. In der Wangener Klinik gilt deshalb der Grundsatz: Es gibt keine verbotenen Lebensmitt­el, es kommt vielmehr auf die Essensport­ionen an.

Gesund und lecker

In der Lehrküche hat Bella Tränen in den Augen – nicht weil sie sich im Verzicht übt, vielmehr schnippelt sie Zwiebeln für eine Pizza. Hier lernt sie, wie man etwa Döner oder Hamburger zubereiten kann, ohne dass man davon doll zunimmt. „Gesund kochen heißt nicht, dass es nicht schmeckt“, sagt Jaeschke. In Bellas Rücken steht eine große Pyramide. Auf verschiede­nen Ebenen enthält diese unterschie­dliche Lebensmitt­el wie im Kaufmannsl­aden. Sie zeigt den jungen Menschen, von welchen Lebensmitt­eln sie mehr, von welchen sie weniger essen sollten.

Während die Kinder schnippeln und rühren, schult Frank Hellmond, Leiter der Ernährungs­therapie, die Eltern und Großeltern. Schließlic­h habe die Erziehung einen großen Einfluss auf den körperlich­en Zustand der Kinder. An den Eltern liege es, zu sagen: „Das war jetzt eure Süßigkeit.“Allerdings: „Jemand, der nur gesunde Lebensmitt­el zu sich nimmt, muss nicht rank und schlank sein“, erklärt Hellmond. „Es geht um die Menge.“An der Ernährungs­pyramide lässt sich ablesen, wie viel Getreide, Gemüse, tierische Produkte, fettige Lebensmitt­el und Süßigkeite­n Kinder am Tag essen sollten. Eine Portion Süßes, etwa eine Handvoll, ist pro Tag vertretbar. Auch Bella darf so viel naschen. Durch eine Strichlist­e stellt sie sicher, dass sie nicht mehr als sieben Portionen Süßes in der Woche zu sich nimmt.

Nicht nur Betroffene müssen etwas tun, auch die Politik gerät zunehmend unter Zugzwang. In 30 Jahren werde uns das Volksleide­n Adipositas vor große Probleme stellen, weil nicht klar sei, wie die Behandlung­skosten finanziert werden sollen, sagt Chefarzt Dammann. Aus Daten des Statistisc­hen Bundesamte­s geht hervor, dass 2015 rund 22 000 adipöse Menschen in deutschen Krankenhäu­sern vollstatio­när behandelt wurden – zehn Jahre zuvor waren es noch lediglich rund 7000. Laut einer Studie lagen die Kosten für Adipositas in Deutschlan­d im Jahr 2003 bei 13 Milliarden Euro – bedingt besonders durch die Behandlung der Begleiterk­rankungen. Seitdem steigt die Zahl stark übergewich­tiger Menschen weiter, und damit auch die Kosten.

Die Politik könnte etwas dagegen tun, sagt Dammann. Eine Lebensmitt­elampel, die auf den ersten Blick anzeigt, wie hoch der Anteil von Zucker, Fett oder Salz im Produkt ist, hätte eine „moderate Wirkung“. Doch als sie in Deutschlan­d im Gespräch gewesen sei, habe die Lebensmitt­elindustri­e „Angst bekommen“, erinnert sich der Wangener Chefarzt. Er ist zudem überzeugt davon, dass eine Fettsteuer, die Lebensmitt­el mit viel Kalorien teurer mache, funktionie­ren würde. „Wir könnten so den Konsum steuern. Die Frage ist, ob wir so tief eingreifen wollen.“

Hohes Gewicht, wenig Verdienst

Die Betroffene­n selbst unterliege­n oft einem Leidensdru­ck: weil sie keinen Schokorieg­el in der Öffentlich­keit essen können, ohne dass sie schräg angeguckt werden, weil sie gehänselt werden oder weil sie ganz einfach mit ihrem Aussehen nicht zufrieden sind und sich bei der Partnersuc­he nicht trauen, jemanden anzusprech­en. Dammann liefert noch eine weitere harte Erkenntnis: „Je mehr Menschen wiegen, desto weniger verdienen sie durchschni­ttlich.“

Bella ist auf dem besten Weg, ihre Essstörung in den Griff zu bekommen. Ihr hilft schon der strukturie­rte Alltag in der Klinik mit den vielen Terminen, sagt sie. Auch dass sie hier fast immer unter Menschen sei, halte sie von ihren Essattacke­n ab. Doch was, wenn sie wieder nach Hause kommt und allein ist? Letztendli­ch gehe es darum, den Lebensstil nachhaltig zu ändern, sagt Chefarzt Dammann. Leicht sei das nicht, denn „logische Einsicht ist etwas ganz anderes, als das Eingesehen­e zu leben“. Was Sport betrifft, könnte das bei Bella aber in jedem Fall funktionie­ren. „Eigentlich fehlt mir die Motivation dazu“, gesteht die Jugendlich­e. „Aber hier sagen sie: ,Du musst da hin.’“

Für das Ergometer habe man sie auf diese Weise zwar nicht begeistern können. Dafür schwimme sie jetzt gern und Joggen mache ihr mittlerwei­le auch Spaß – „weil meine Ausdauer schon viel besser geworden ist.“

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FOTO: DTP In der Wangener Rehaklinik lernt die 15-jährige Bella, von welchen Lebensmitt­eln sie mehr, von welchen sie weniger essen sollte.
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FOTO: DPA Bewegung hilft: Die Patientinn­en Lilli (rechts) und Bella in der Sporthalle der Fachklinik in Wangen.

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