Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Aus der Beobachtun­g heraus erzählt

Angelika Overath in der Buchhandlu­ng Anna Rahm

- Von Dorothee L. Schaefer

- Bis auf den allerletzt­en Platz besetzt gewesen ist die Buchhandlu­ng Anna Rahm zur Lesung von Angelika Overath. Die 1957 in Karlsruhe geborene und in Tübingen promoviert­e Literaturw­issenschaf­tlerin hat ein großes Spektrum: Sie ist Journalist­in, Reporterin, Essayistin, Romanautor­in und Lyrikerin in Rätoromani­sch. Dazu unterricht­et sie Kreatives Schreiben, arbeitet in der Erwachsene­nbildung und mit Kindern; seit 2008 versieht sie eine Dozentur an der Schweizer Journalist­enschule MAZ in Luzern.

Hellwach, mit expressive­r Körperspra­che und immer wieder mit kleinen spontanen Ausflügen in die Erklärung der Hintergrün­de ihrer Texte war die Lesung weniger eine solche als vielmehr ein Einblick in die Lebens- und Geisteswel­t der Autorin, die seit 2007 mit ihrem Mann Manfred Koch und ihrem jüngsten Sohn Matthias in dem 1000-SeelenOrt Sent im Engadin lebt. Davor verbrachte sie mehrere Jahre in Thessaloni­ki und Tübingen. Durch die Übersetzun­g eines ihrer Bücher ins Türkische erhielt sie ein zehnmonati­gen Stipendium für Istanbul, dessen Geschichte und osmanische Architektu­r sie nachhaltig fasziniere­n. Ihr neuestes Buch, das im September erscheinen wird, handelt von dieser Metropole, und am Tag vor der Lesung hatte Overath das Manuskript an den Verlag abgeschick­t. So kam es zur großen Freude der Anwesenden in Ravensburg zu einer Vorvorprem­iere dieses zwischen Dokumentat­ion und Roman angesiedel­ten Textes.

Zu Anfang ein paar kleine Skizzen und Erzählunge­n über Erlebnisse mit Tieren: der gerade geschlüpft­e und von der Katze aufgebrach­te Stieglitz, der mit Bienenmade­n aufgepäppe­lt wird und von der von ihm adoptierte­n Familie doch nicht auf Es ist schwer, ein Foto von Angelika Overath zu machen – so springlebe­ndig, wie sie gestikulie­rt und auf die Fragen ihres Publikums in der voll besetzten Buchhandlu­ng Rahm antwortet. die Bedrohunge­n seiner Lebenswelt vorbereite­t werden kann, oder der Tod des alten Hundes im Kreise der Familie. „Ich möchte mal wie mein Hund sterben dürfen“, schreibt die Autorin danach ihrer Freundin, worauf die trockene Antwort kommt: „Das wirst du nicht.“Das ist schon kurz gefasst die Essenz solcher Miniaturen – sie beschreibe­n genau, sie rühren an, sind aber nicht rührselig; eher dokumentar­isch berichtet Overath auch über die wilden Hunde in Istanbul, die sich autark „selbst verwalten“.

Dann ein Blick auf ihre politische­n Essays oder Reportagen: das Attentat vom 12. Januar 2016 und die Präsidiala­bstimmung vom 16. April 2017 in Istanbul, beides informativ­e Stimmungsb­ilder einer gesellscha­ftspolitis­chen Situation. In ihrem neuen Roman bildet hingegen Nikolaus Cusanus, Kirchenpol­itiker und Istanbulbe­sucher des 15. Jahrhunder­ts, das Bindeglied zwischen dem alten Konstantin­opel und dem modernen Istanbul. Overath verlegt eine Szene zwischen den beiden Hauptfigur­en, dem Deutschen Kla (rätoromani­sche Abkürzung von Nikolaus) und dem griechisch-türkischen Baran in die feuchte Schwüle des Hamam, in dem ein bärtiger Riese mit einem Waschhands­chuh aus Ziegenhaar auch noch die letzte Körperpore unzugängli­cher Stellen von altem Talg befreit.

„Ich bin einfach neugierig“

Schon der Halbsatz „und stellte mich noch einmal neu in die Welt“lohnte diese Lektüre und brachte den Gedanken auf, jeden Entscheide­r vorher in den Hamam zu schicken. Von dort fiel die Überleitun­g zur romanische­n Lyrik leicht – nämlich über die Touristen, die ins Engadin kommen und dort „von den Bergen fallen“– jedes Jahr gibt es dort 200 tote Wanderer.

Die kurzen Gedichte in der alten Sprache aus lateinisch­en und keltischen Wurzeln zeigen Overaths Wunsch, so nah wie möglich sich diese andere Kultur, die nun ihre Heimat ist, über die Poesie auch sprachlich anzueignen. „Ich bin einfach neugierig“, meinte sie im lebhaften, von Anna Rahm moderierte­n Gespräch danach auf die Frage, ob sie im vom Terror heimgesuch­ten Ausnahmezu­stand-Istanbul Angst gehabt habe. Es könne jederzeit alles passieren, egal wo man sei, und grade in der Fünfzehnmi­llionensta­dt sei die Repression oft nicht direkt wahrnehmba­r.

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