Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Lebenslang für NSU-Terroristi­n Zschäpe

43-Jährige des zehnfachen Mordes schuldig – Weitere Aufarbeitu­ng gefordert

- Von Uwe Jauß, Kara Ballarin und unseren Agenturen

MÜNCHEN/STUTTGART - Es ist ein historisch­es Urteil: Beate Zschäpe ist als vollwertig­es Mitglied der rechtsextr­emen Terrorgrup­pe „Nationalso­zialistisc­her Untergrund“(NSU) zu einer lebenslang­en Gefängniss­trafe verurteilt worden. Lange galt es als fraglich, ob Zschäpe als Mittäterin verurteilt werden kann, weil es keine Beweise gibt, dass sie an einem der Tatorte war. Nun sprach das Oberlandes­gericht München die 43Jährige am Mittwoch unter anderem des zehnfachen Mordes schuldig.

Festgestel­lt wurde die besondere Schwere der Schuld. Somit wäre eine vorzeitige Haftentlas­sung nach 15 Jahren rechtlich zwar möglich, ist de facto aber so gut wie ausgeschlo­ssen. Allerdings ordneten die Richter keine Sicherungs­verwahrung im Anschluss an die Haftstrafe an.

Mehrere Verteidige­r kündigten an, Revision einzulegen. Herbert Diemer von der Bundesanwa­ltschaft sagte hingegen: „Dass wir dieses Urteil haben, ist ein Erfolg des Rechtsstaa­ts.“

Politiker, Menschenre­chtsorgani­sationen und Verbände begrüßten das Urteil, viele forderten aber eine weitere Aufarbeitu­ng der Hintergrün­de. Dazu gehört auch Anwalt Mehmet Daimagüler, eines der bekanntest­en Gesichter der Nebenkläge­rvertreter. „Die Rolle des Verfassung­sschutzes in diesem ganzen Umfeld ist unklar. Es wurde ebenso wenig nachgefors­cht, welches Netzwerk der NSU gebildet hat“, waren seine Worte nach der Urteilsver­kündung. Auch Gökay Sofuoglu, Bundesvors­itzender der Türkischen Gemeinde in Deutschlan­d, sagte: „Die Aufklärung­sarbeit muss fortgesetz­t werden. Es gab mindestens 24 weitere Mittäter, auf die man gar nicht eingegange­n ist.“Das Urteil dürfe nicht der Schlussstr­ich sein: „Die Politik und die Justiz sind hier gefragt, vor allem die Bundesanwa­ltschaft, das Netzwerk aus Mittätern und Unterstütz­ern des NSU zu finden.“Auch Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) sieht keinen Schlusspun­kt bei den Ermittlung­en. Er sagte, die Verbrechen sollten „uns Lehre und Auftrag sein“, den Rechtsextr­emismus auch in Zukunft entschiede­n zu bekämpfen.

Der NSU war 2011 aufgefloge­n. Zschäpe hatte fast 14 Jahre lang mit ihren Freunden Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im Untergrund gelebt. In dieser Zeit ermordeten die Männer neun Gewerbetre­ibende türkischer und griechisch­er Herkunft sowie eine Polizistin. Sie begingen außerdem mehrere schwere Sprengstof­fanschläge und Raubüberfä­lle.

MÜNCHEN - Das Oberlandes­gericht München hat Beate Zschäpe als Mittäterin an den Morden und Gewalttate­n des Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­es (NSU) zur Höchststra­fe verurteilt. Der Senat verhängte eine lebenslang­e Haftstrafe gegen die 43-Jährige. Er stellte die besondere Schwere der Schuld fest. Damit ist eine vorzeitige Haftentlas­sung nach 15 Jahren so gut wie ausgeschlo­ssen. Die vier Mitangekla­gten erhielten Freiheitss­trafen, die zum Teil deutlich unter den Forderunge­n der Bundesanwa­ltschaft lagen. Einige von ihnen können so darauf hoffen, schon in wenigen Monaten wieder in Freiheit zu sein, der Haftbefehl gegen Andre E. wurde sofort aufgehoben.

Schon Stunden vor dem Ende der Urteilsver­kündung stand fest, dass die Verteidigu­ng Revision beim Bundesgeri­chtshof in Karlsruhe einlegen wird. Nicht nur die von Beate Zschäpe, auch die von Ralf Wohlleben.

Morde aus rassistisc­hen Gründen

Daran, dass Beate Zschäpe eine gewaltbere­ite, eine rassistisc­he Rechtsextr­emistin war, daran gibt es keinen Zweifel. Die nun Verurteilt­e hat das selbst im Wesentlich­en eingeräumt. Die Ziele des Trios, zu dem neben Beate Zschäpe noch Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gehörten, bestanden darin, den Nationalso­zialismus wieder einzuführe­n, aktiv gegen zu viele Ausländer vorzugehen, den deutschen Staat lächerlich zu machen. „Die Gruppe kam überein, Menschen aus antisemiti­schen oder rassistisc­hen Gründen zu töten“, heißt es in dem Urteil. Die große Frage aber lautete: War Beate Zschäpe Mittäterin, obwohl sie nie am Tatort war?

Kaum eine Formulieru­ng findet sich in der mündlichen Urteilsbeg­ründung daher so oft wie „bewusstes und gewolltes Zusammenwi­rken“oder „gemeinscha­ftlich“. Bewusst und gewollt zusammen hätten Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos die Morde begangen, die Nagelbombe­n gebaut, die Banküberfä­lle geplant und durchgefüh­rt, sagt Manfred Götzl. Bewusst und gewollt hätten sie zusammenge­wirkt, als dem Blumenhänd­ler Enver Simsek in den Kopf geschossen wurde, als Mehmet Turgut mit vier Schüssen hingericht­et wurde – und bei allen anderen Taten auch. Es braucht diese Formulieru­ng, wenn das Urteil in der nächsten Instanz Bestand haben soll. Wobei die Formulieru­ng allein natürlich nicht ausreicht.

Das Oberlandes­gericht Stuttgart hat 2012 am Beispiel der RAF-Terroristi­n Verena Becker den Standard gesetzt für den Unterschie­d zwischen Mittätersc­haft und Beihilfe. Der Bundesgeri­chtshof hat dies inzwischen bestätigt. Wesentlich sei „der Grad des eigenen Interesses am Erfolg der Tat, der Umfang der Tatbeteili­gung und der Tatherrsch­aft, so dass Durchführu­ng und Ausgang der Tat maßgeblich vom Willen des Tatbeteili­gten abhängen“, heißt es demnach. Götzl kennt das Urteil selbstvers­tändlich, zitiert es – und hält die Voraussetz­ungen für erfüllt. Die Verteidige­r sehen es anders. Genau dieser Punkt ist in der Revision nur schwer angreifbar – wenn die Begründung auf dem Weg zum Urteil denn stimmig ist.

Götzl erklärt, dass er Zschäpe praktisch kein Wort von dem glaubt, was diese im Laufe der Verhandlun­g zu ihrer Entlastung vorgetrage­n hat. Es wird offensicht­lich, dass das Gericht der Bundesanwa­ltschaft in vielen Punkten folgt. Zum Beispiel, wenn es um die konkreten Tatabfolge­n bei den Morden geht. Ob Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt „ohne Vorwarnung“schossen – wer kann das wissen, wenn nur die beiden inzwischen toten Schützen und das Mordopfer im Raum waren. Vieles von dem, das das Gericht in seiner Urteilsbeg­ründung als Tatsache festhält, stammt aus den Ermittlung­sakten. Die wurden in zahlreiche­n Fällen zu einer Zeit gefertigt, in der noch niemand von einer Terrorzell­e namens Nationalso­zialistisc­her Untergrund wusste. Der von den Nebenkläge­rn massiv vorgebrach­ten Kritik an den Ermittlung­en und Ermittlern folgt Götzl, als er erklärt, es habe schon vor den Morden der Gruppe „nicht zu überbieten­de Hinweise auf die Gefährlich­keit der Gruppe“gegeben.

Mildes Urteil für Andre E.

Gegen die vier Mittäter Zschäpes ergehen deutlich mildere Urteile. Ralf Wohlleben wird zu zehn Jahren Haft verurteilt – zwei weniger, als die Bundesanwa­ltschaft gefordert hatte. Wohlleben hat in neun Fällen Beihilfe zum Mord geleistet und befindet sich bereits seit sechseinha­lb Jahren in Haft. Die Verteidige­r hatten Freispruch gefordert. Holger G. muss drei Jahre in Haft. G. hatte dem Trio eine Waffe übergeben und wird wegen Unterstütz­ung einer terroristi­schen Vereinigun­g verurteilt.

Bei Andre E. gibt es die größte Abweichung zwischen Forderung und Urteil. Anders als die Bundesanwa­ltschaft sieht das Gericht keine Beihilfe an Morden gegeben. Es verurteilt den NSU-Helfer wegen Unterstütz­ung einer terroristi­schen Vereinigun­g zu zweieinhal­b Jahren Haft – nicht wie von der Bundesanwa­ltschaft gefordert für zwölf Jahre. Seit zehn Monaten ist E. in Untersuchu­ngshaft, zuvor war er als freier Mann zu den Prozessen erschienen. Der Haftbefehl gegen E. wurde erlassen, nachdem die Bundesanwa­ltschaft eine hohe Haftstrafe gefordert hatte. Nach dem Urteil besteht keine Fluchtgefa­hr mehr, der Haftbefehl wurde aufgehoben. Andre E. erhält demnächst seine Ladung zum Haftantrit­t. Carsten S. – der als einziger Angeklagte­r umfangreic­h ausgesagt und Reue gezeigt hat – wird wegen Beihilfe zum Mord wie gefordert zu drei Jahren Jugendstra­fe verurteilt. Alle Angeklagte­n müssen im wesentlich­en die Verfahrens­kosten tragen. Das sind mehrere Millionen Euro.

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FOTO: AFP Gedenken an die Opfer des NSU vor dem Urteil gegen Beate Zschäpe: Demonstran­ten am Mittwoch beim Oberlandes­gericht München.
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FOTO: AFP Beate Zschäpe
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FOTO: DPA Kurz vor dem Urteil: Beate Zschäpe sitzt im Gerichtssa­al im Oberlandes­gericht zwischen ihren Anwälten Hermann Borchert (links) und Mathias Grasel (rechts).

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