Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Großbritanniens Testsystem ist offenbar überfordert
Wer sich auf Corona untersuchen lassen will, wird kreuz und quer durchs Land geschickt
LONDON - Auch die Briten ducken sich unter der Wucht der nun erwarteten zweiten Corona-Welle. Binnen einer Woche hat sich die Zahl der Neuerkrankungen pro Tag verdoppelt und auf über 3000 gesteigert.
Zum Ende dieser Woche soll sich diese Zahl erneut verdoppelt haben. Die Zahl der Klinik-Einweisungen ist ebenfalls stetig im Steigen begriffen. In Alters- und Pflegeheimen registriert man einen beängstigenden neuen Umfang an Erkrankungen.
Ausgerechnet in dieser angespannten Situation aber mühen sich besorgte Briten vergeblich darum, getestet zu werden. Englands Testand-Trace-System ist komplett überfordert. Es stehe gar „am Rande des Kollapses“, hat Oppositionsführer Sir Keir Starmer erklärt.
Die Laboratorien kommen nicht nach. Es sind nicht genug Test-Kits vorhanden. Das weitgehend über private Firmen betriebene System vermag Hilfesuchenden vielerorts keine Hilfe zu bieten. Wegen der Zentralisierung des Apparats mutet man Bürgern, die um einen Test bitten, weite Wege zu Testzentren zu. Überall sind gegenwärtig zornige
Klagen über diesen Zustand zu hören. Online ist über Testmöglichkeiten häufig gar keine Auskunft zu bekommen. Und wer es telefonisch versucht, erhält nach stundenlangem Warten entweder denselben Bescheid oder wird aufgefordert, zu einem Hunderte von Kilometern entfernten Zentrum zu fahren, wo gerade ein Test zur Verfügung steht.
Kreuz und quer werden Hilfesuchende durchs Land geschickt. Einem Architekten in London, Nick Humphreys, wurde mitgeteilt, er solle, um sich testen zu lassen, ins fast 700 Kilometer entfernte Inverness in den schottischen Highlands fahren.
Zwei Schullehrern aus Lincolnshire wurde ein Test in Aberdeen angeboten. Das wären acht Stunden Fahrzeit gewesen, hin und zurück.
Kate Morris, eine Londoner UniDozentin, versuchte einen ganzen Tag lang vergebens, einen Test für ihren Sohn zu bekommen, dem ein Krankenhaus-Termin bevorstand, auf den die Familie seit März gewartet hatte: „Ich habe es jede Stunde versucht.“
Steve Hyndside aus West-Wales wurde angewiesen, mit seinen zwei kranken Kleinkindern zu einem Testzentrum im englischen Telford zu fahren. Dort angekommen, erfuhr er, dass man das Zentrum geschlossen hatte, weil keine Test-Kits mehr vorhanden waren.
Eine Ärztin aus Nordengland, deren Kind beharrlich zu husten begonnen hatte und über Änderungen der Geschmacksnerven klagte, wurde wiederum hinunter nach London geschickt: „Es war ein echter Alptraum. Ich musste Sprechstunden mit Patienten absagen. Das ganze System droht zu kippen. Man hat nicht das Gefühl, dass das Gesundheitswesen so über den Winter kommt.“
Nicht wenige Betroffene klagen auch darüber, dass ihre Testergebnisse endlos auf sich warten lassen oder überhaupt nie kommen. Vor allem Alters- und Pflegeheime haben deswegen Alarm geschlagen. Ein Heim in Cheshire wartet seit über einer Woche vergebens auf Testergebnisse seiner Mitarbeiter – eine Wartezeit, die sehr wohl zu neuen Ansteckungen geführt haben könnte.
Gesundheitsminister Matt Hancock, der noch im Juli versichert hatte, jeder, der einen Test benötige, werde ihn auch bekommen, räumt inzwischen „operationelle Probleme“ein. Leider sei das System zum Ende dieses Sommers etwas überansprucht, meint Hancock. Aber das werde man „in ein paar Wochen“geregelt haben.
Wenig tröstlich finden das Regierungskritiker wie der Labour-Bürgermeister von London, Sadiq Khan, zumal „in einem so kritischen Augenblick“wie diesem, in dem man mit allen Mitteln „einer Neuverbreitung des Virus wehren“müsse.
Schlicht nicht vorbereitet habe sich die Regierung im Sommer, als noch Zeit war, urteilen Oppositionspolitiker. Vom „weltbesten“Testsystem, mit dem Premier Boris Johnson immer geprahlt habe, könne keine Rede sein.
Für Johnson ist solche Kritik eher ein Anreiz zu noch größeren Versprechen. Nicht nur hat er verkündet, dass die Zahl täglicher Test von bisher 200 000 bis zum Oktober auf eine halbe Million erhöht werden soll. Zum Jahresanfang 2021 will er, mit einer kühnen „Operation Moonshot“, sogar für 10 Millionen Tests pro Tag sorgen, damit seine Briten jederzeit wissen, woran sie sind. Der Regierungschef solle lieber „zu phantasieren aufhören“, stöhnt da selbst Londons konservative „Times“, „und dafür sorgen, dass das existierende Test-and-Trace-Programm funktioniert“.