Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Großbritan­niens Testsystem ist offenbar überforder­t

Wer sich auf Corona untersuche­n lassen will, wird kreuz und quer durchs Land geschickt

- Von Peter Nonnenmach­er

LONDON - Auch die Briten ducken sich unter der Wucht der nun erwarteten zweiten Corona-Welle. Binnen einer Woche hat sich die Zahl der Neuerkrank­ungen pro Tag verdoppelt und auf über 3000 gesteigert.

Zum Ende dieser Woche soll sich diese Zahl erneut verdoppelt haben. Die Zahl der Klinik-Einweisung­en ist ebenfalls stetig im Steigen begriffen. In Alters- und Pflegeheim­en registrier­t man einen beängstige­nden neuen Umfang an Erkrankung­en.

Ausgerechn­et in dieser angespannt­en Situation aber mühen sich besorgte Briten vergeblich darum, getestet zu werden. Englands Testand-Trace-System ist komplett überforder­t. Es stehe gar „am Rande des Kollapses“, hat Opposition­sführer Sir Keir Starmer erklärt.

Die Laboratori­en kommen nicht nach. Es sind nicht genug Test-Kits vorhanden. Das weitgehend über private Firmen betriebene System vermag Hilfesuche­nden vielerorts keine Hilfe zu bieten. Wegen der Zentralisi­erung des Apparats mutet man Bürgern, die um einen Test bitten, weite Wege zu Testzentre­n zu. Überall sind gegenwärti­g zornige

Klagen über diesen Zustand zu hören. Online ist über Testmöglic­hkeiten häufig gar keine Auskunft zu bekommen. Und wer es telefonisc­h versucht, erhält nach stundenlan­gem Warten entweder denselben Bescheid oder wird aufgeforde­rt, zu einem Hunderte von Kilometern entfernten Zentrum zu fahren, wo gerade ein Test zur Verfügung steht.

Kreuz und quer werden Hilfesuche­nde durchs Land geschickt. Einem Architekte­n in London, Nick Humphreys, wurde mitgeteilt, er solle, um sich testen zu lassen, ins fast 700 Kilometer entfernte Inverness in den schottisch­en Highlands fahren.

Zwei Schullehre­rn aus Lincolnshi­re wurde ein Test in Aberdeen angeboten. Das wären acht Stunden Fahrzeit gewesen, hin und zurück.

Kate Morris, eine Londoner UniDozenti­n, versuchte einen ganzen Tag lang vergebens, einen Test für ihren Sohn zu bekommen, dem ein Krankenhau­s-Termin bevorstand, auf den die Familie seit März gewartet hatte: „Ich habe es jede Stunde versucht.“

Steve Hyndside aus West-Wales wurde angewiesen, mit seinen zwei kranken Kleinkinde­rn zu einem Testzentru­m im englischen Telford zu fahren. Dort angekommen, erfuhr er, dass man das Zentrum geschlosse­n hatte, weil keine Test-Kits mehr vorhanden waren.

Eine Ärztin aus Nordenglan­d, deren Kind beharrlich zu husten begonnen hatte und über Änderungen der Geschmacks­nerven klagte, wurde wiederum hinunter nach London geschickt: „Es war ein echter Alptraum. Ich musste Sprechstun­den mit Patienten absagen. Das ganze System droht zu kippen. Man hat nicht das Gefühl, dass das Gesundheit­swesen so über den Winter kommt.“

Nicht wenige Betroffene klagen auch darüber, dass ihre Testergebn­isse endlos auf sich warten lassen oder überhaupt nie kommen. Vor allem Alters- und Pflegeheim­e haben deswegen Alarm geschlagen. Ein Heim in Cheshire wartet seit über einer Woche vergebens auf Testergebn­isse seiner Mitarbeite­r – eine Wartezeit, die sehr wohl zu neuen Ansteckung­en geführt haben könnte.

Gesundheit­sminister Matt Hancock, der noch im Juli versichert hatte, jeder, der einen Test benötige, werde ihn auch bekommen, räumt inzwischen „operatione­lle Probleme“ein. Leider sei das System zum Ende dieses Sommers etwas überanspru­cht, meint Hancock. Aber das werde man „in ein paar Wochen“geregelt haben.

Wenig tröstlich finden das Regierungs­kritiker wie der Labour-Bürgermeis­ter von London, Sadiq Khan, zumal „in einem so kritischen Augenblick“wie diesem, in dem man mit allen Mitteln „einer Neuverbrei­tung des Virus wehren“müsse.

Schlicht nicht vorbereite­t habe sich die Regierung im Sommer, als noch Zeit war, urteilen Opposition­spolitiker. Vom „weltbesten“Testsystem, mit dem Premier Boris Johnson immer geprahlt habe, könne keine Rede sein.

Für Johnson ist solche Kritik eher ein Anreiz zu noch größeren Verspreche­n. Nicht nur hat er verkündet, dass die Zahl täglicher Test von bisher 200 000 bis zum Oktober auf eine halbe Million erhöht werden soll. Zum Jahresanfa­ng 2021 will er, mit einer kühnen „Operation Moonshot“, sogar für 10 Millionen Tests pro Tag sorgen, damit seine Briten jederzeit wissen, woran sie sind. Der Regierungs­chef solle lieber „zu phantasier­en aufhören“, stöhnt da selbst Londons konservati­ve „Times“, „und dafür sorgen, dass das existieren­de Test-and-Trace-Programm funktionie­rt“.

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FOTO: HAN YAN/DPA Kein neuer Architektu­rstil, sondern Corona-Schutz: In einem Restaurant in London sind einzelne Gruppen von Gästen unter einem Baldachin von anderen getrennt.

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