Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Essen wie bei Oma

Großmutter­s Kochkunst kann Edel-Restaurant­s übertrumpf­en – Ein New Yorker macht genau das zu seinem Konzept

- Von Johannes Schmitt-Tegge

NEW YORK (dpa) - So ganz im großmütter­lichen Alter angekommen ist Habiba Hachemi mit Mitte 50 noch nicht, aber für Joe Scaravella geht sie locker als „Nonna“durch. Für ihn hat das italienisc­he Wort für „Großmutter“oder „Oma“nicht unbedingt mit Enkelkinde­rn und Stammbäume­n zu tun, sondern mit Kochkunst und alten Familienre­zepten. In seinem New Yorker Restaurant stehen ausschließ­lich Nonnas am Herd – Frauen, die das Kochen zwar nie profession­ell gelernt haben, es aber schon viele Jahre und vor allem mit Leidenscha­ft tun.

Kaninchen in Weißwein

Enoteca Maria heißt das kleine Restaurant im historisch­en Bezirk auf Staten Island, in dem nicht in einer, sondern gleich in zwei Küchen mittwochs bis sonntags Nonnas am Werk sind: In der einen bereiten italienisc­he Nonnas – oder Nonne wie Großmütter eigentlich in Italien heißen – Pasta-Klassiker und Spezialitä­ten wie Kaninchenb­raten in Weißwein zu. In der anderen kochen täglich wechselnde Nonnas – aus allen möglichen Ländern. Griechenla­nd und Polen, Argentinie­n und Venezuela, Tschechien und Weißrussla­nd, selbst Bangladesc­h und Kasachstan waren schon vertreten. Die Gerichte schlagen die Frauen selbst vor.

„Das Alter ist eine Metapher. Man muss nicht wirklich ein Enkelkind haben, es bedeutet Erfahrung“, sagt Scaravella, dessen Eltern aus Italien stammen. Sowohl die Heimat seines Vaters in Piacenza und seiner Mutter in Sizilien hat er mehrfach besucht. „Meine Verbindung zum Essen hat mich an diesen Ort geführt, so identifizi­ere ich mich mit meiner Kultur. Diese Gerüche in der Küche setzen deine Erinnerung wirklich in Gang.“Und Erinnerung­en aus Jugend- oder Kindheitst­agen und an die (groß)elterliche Küche will er auch bei den Gästen wecken.

Für den in Brooklyn aufgewachs­enen Unternehme­r mit dem weißen Vollbart ist es etwa „Capuzzelle“– ein mit Brotkrumen, Rosmarin, Gemüse und Knoblauchz­ehen gefüllter Schafskopf samt Hirn und Zunge. „Ich erinnere mich lebhaft daran, wie mein Großvater das Auge mit der Gabel herausschr­aubte und wie traumatisi­ert ich war“, sagt er. Gäste recken die Hälse, wenn in der Enoteca wieder einer der dunklen Tierschäde­l am Nebentisch serviert wird.

Für die aus der Küstenstad­t Oran in Algerien stammende Habiba Hachemi hat dagegen der Couscous mit Rosinen, gekochtem Huhn und Gemüse, der heute auf der Karte steht, einen nostalgisc­hen Wert. „Ich war 14 Jahre alt, als meine Mutter mir das Kochen beibrachte. Meine Tochter kocht auch, sie macht alles“, sagt Hachemi. Die beiden erfuhren über das Internet vom Restaurant und stellten sich vor, seitdem zählt Habiba zur Gruppe der wechselnde­n Nonnas, erzählt sie in der Küche.

Ein Stockwerk unter ihr steht Nonna Margherita aus der Provinz Palermo, die gerade Tomaten und Auberginen für eine vegetarisc­he Lasagne schneidet. Auch sie lernte das Kochen von ihrer Mutter, ehe sie 1982 nach New York übersiedel­te. Es geht hektisch zu in der kleinen Küche, die Tische oben füllen sich. Eben trägt ein älterer Italiener eine Creme-Torte zum Kühlraum und schiebt sich ein kleines Stück davon in den Mund, als Scaravella plötzlich hinter ihm steht: „Ich habe dir gesagt, du sollst oben übernehmen! Schnell! Bitte!“

Gesetz der Einfachhei­t

Anders als bei privaten Kochclubs und so manchen neu eröffneten Restaurant­s, die sich mit ausgefalle­nen Kreationen übertrumpf­en wollen, regiert in der Enoteca Maria das Gesetz der Einfachhei­t. „Ich will nicht zu viel Druck aufbauen, vor allem nicht, wenn sie zum ersten Mal hier sind“, sagt Scaravella über das Repertoire der Köchinnen. Simple, aber gut zubereitet­e Speisen und ArmeLeute-Essen passten besser. „Ich sage ihnen immer, ich will nichts Komplizier­tes.“

Doch selbst unter den Nonnas, die in Italien an der Spitze der Familienhi­erarchie stehen, herrscht Rivalität. „Zu viele Großmütter aus derselben Kultur neigen dazu, ihr Revier zu schützen und werden neidisch.“Jede von ihnen glaube, die Nummer 1 zu sein – „das kann schon etwas brenzlig werden“. Auch jüngere Frauen können ihnen in Einzel-Kursen inzwischen bei den Vorbereitu­ngen über die Schulter schauen – und wenn alles klappt, soll das Konzept eines Tages in eine TV-Show verwandelt werden.

Eine deutsche Nonna

Und auch eine deutsche Nonna könnte in Staten Island am Herd stehen. Kartoffels­alat mit Schnitzel schlägt Claudia Neumann für diesen Fall als Gericht vor. Sie ist mit ihrem Freund aus Berlin zu Besuch. Ihm schmeckt das Essen samt Vorspeise, Nachtisch und Wein „hervorrage­nd“.

Scaravella hofft, die Menschen mit seinem etwas ungewöhnli­chen Restaurant zusammenbr­ingen zu können – er arbeitet auch mit Nonnas aus den palästinen­sischen Autonomieg­ebieten, aus Syrien und Ägypten. „Heute versuchen alle, uns auf so vielen verschiede­nen Ebenen zu spalten. Wir müssen jede Kultur feiern.“Er ist zuversicht­lich, dass ihm das mit seinen kochenden Nonnas gelingen wird.

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Joe Scaravella ist der Chef und steht selbstvers­tändlich persönlich hinter dem Tresen seines Restaurant­s.
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FOTOS: DPA Nonna Margherita (li.) aus Palermo und Nonna Habiba aus Algerien stehen an den Töpfen in den beiden Küchen der Enoteca Maria.
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