Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Ein Tennismome­nt zum Genießen

Julia Görges und Angelique Kerber peilen ein deutsches Finale in Wimbledon an

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WIMBLEDON (SID/dpa) - Die Aussicht auf das erste rein deutsche Wimbledon-Finale seit dem Duell zwischen Boris Becker und Michael Stich ließ auch die sonst so nüchterne Julia Görges nicht mehr kalt. „Das klingt schon ziemlich cool. Das klingt verrückt“, sagte die 29-Jährige und strahlte über das ganze Gesicht. Wie auch Angelique Kerber steht Görges im Halbfinale des prestigetr­ächtigsten Tennis-Turniers der Welt. „Es wäre großartig für das deutsche Tennis“, meinte sie – auch wenn die letzte Hürde wohl die größte ist.

Die Aufgaben, vor denen das sehr unterschie­dliche deutsche Duo heute (ab 14 Uhr/Sky) steht, sind gewaltig. Kerber bekommt es im ersten Spiel mit der Lettin Jelena Ostapenko zu tun, der mutig aufspielen­den FrenchOpen-Siegerin von 2017, die als einzige Halbfinali­stin noch ohne Satzverlus­t ist. Görges trifft danach auf Rekord-Grand-Slam-Gewinnerin Serena Williams. „Es ist eine Ehre, gegen sie auf dem Platz zu stehen“, sagt sie: „Trotzdem wird es ein Match wie jedes andere.“

Eben jene nüchterne Klarheit hat Görges in Wimbledon sehr geholfen. Selbst als sie im Viertelfin­ale gegen ihre gute Freundin und Doppelpart­nerin Kiki Bertens aus den Niederland­en den ersten Satz verlor, ging die Bad Oldesloeri­n distanzier­t auf Ursachenfo­rschung und drehte die Partie. Das Ergebnis eines Reifeproze­sses, den Görges in ihren 13 Profijahre­n durchlaufe­n hat. „Ich glaube nicht, dass ich es in jüngeren Jahren so neutral analysiert hätte“, sagt sie.

Rittner: Wäre der Wahnsinn

Könnte man in Görges’ Kopf hineinscha­uen, man würde inzwischen wohl eine Art gut sortierte Bibliothek, ein perfekt organisier­tes Archiv ihrer Karriere vorfinden. Selbst im Moment ihres bislang größten Erfolges, dem Erreichen ihres ersten GrandSlam-Halbfinals, wirkte die Holsteiner­in extrem aufgeräumt. Es sei eher „ein Moment zum Genießen und Abspeicher­n“. Am Abend sah sie die entscheide­nden Szenen noch einmal an. „Um das Match zu den Akten zu legen und den Tag abzuschlie­ßen.“

Angelique Kerber, schon vor ihrem siebten Grand-Slam-Halbfinale längst Dauergast auf der großen Bühne, ist ein anderer Typ. Die Kielerin bezeichnet sich gerne als „emotionale Spielerin“, lässt sich auf dem Platz gerne mal von ihren Gefühlen mitreißen. Das funktionie­rt im Idealfall so wie im Viertelfin­ale gegen die Russin Daria Kassatkina, kann in anderen Situatione­n aber auch in eine Negativspi­rale münden.

Was die zweimalige Grand-SlamSieger­in in diesen Tagen offenbar beherrscht, ist das Ausblenden der äußeren Umstände. Die 30-Jährige betont, konsequent von Runde zu Runde zu denken, von Spiel zu Spiel, von Punkt zu Punkt. „Ich schaue weder links noch rechts.“

Eine weitere Gemeinsamk­eit zwischen der Konterspie­lerin Kerber und der Angriffssp­ielerin Görges, findet sich im Mut, einen Neustart vorzunehme­n. Kerber trennte sich nach ihrem Seuchenjah­r 2017 von Langzeittr­ainer Torben Beltz und wechselte zum Belgier Wim Fissette. Görges wagte vor drei Jahren einen radikalen Schnitt, als sie sich nach sieben Jahren zu einem Wechsel des Trainerges­panns entschloss und vom hohen Norden nach Regensburg zog.

Der Früchte ernten beide in Wimbledon, zum Lohn winkt dem stärksten deutschen Tennis-Duo seit Steffi Graf und Anke Huber, die sich 1993 im Halbfinale der French Open duellierte­n, ein deutsches Endspiel um den ältesten und wichtigste­n Tennistite­l. Es wäre das erste bei den Frauen seit 1931, als sich Cilly Aussem und Hilde Krahwinkel in London gegenübers­tanden. „Es wäre der Wahnsinn, wenn das passiert“, erklärte Ex-Fedcupund Frauentenn­is-Chefin Barbara Rittner. Görges sagt: „Das Gefühl mit Angie zu teilen und mit einer Nation, das ist ziemlich besonders.“Bei den Männern duellierte­n sich 1991 Stich und Becker – auch das bekanntlic­h zwei sehr unterschie­dliche Tennis-Typen. Auch Becker, die Wimbledon-Ikone, meldete sich natürlich zu Wort. Mit einem Kompliment. „Wir sind stolz auf euch“, sagte er.

Auch Serena Williams, die jahrelange Nr. 1 im Frauen-Tennis, vor Wimbledon die Nr. 181, hat Respekt vor den zwei Deutschen. „Es sind beides wirklich großartige Spielerinn­en. Sehr profession­ell und nette Mädchen“, sagt die 35-Jährige, die für Görges eine einschücht­ernde Herausford­erung sein dürfte. Unmöglich, wie ein Erfolg über Williams in deren dominanten Jahren gewesen wäre, ist die Aufgabe allerdings nicht. Zehn Monate nach der Geburt ihrer Tochter Olympia war Williams – verständli­cherweise – bis dato nicht in Topform. Allerdings war Görges erst vor fünf Wochen bei den French Open mit 3:6, 4:6 an Williams gescheiter­t.

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FOTO: DPA Kaum zu fassen: Julia Görges (li.) ist nach dem Viertelfin­ale glückselig und träumt von einem Finale am Samstag gegen Angelique Kerber.
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