Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

In Deutschlan­d herrscht Organ-Notstand

Im vergangene­n Jahr gab es nur 857 Spender – der niedrigste Wert seit fünf Jahren

- Von Ulrike von Leszczynsk­i

BERLIN (dpa) - Das Blaulicht steht noch neben dem Fahrersitz, eine neonfarben­e Jacke mit dem Aufdruck „Notarzt“baumelt über der Rückbank. „Ich kann nicht ohne Tatütata“, sagt Wolfgang Wachs. Aber der 59Jährige weiß, dass er das Blaulicht nicht mehr auf sein Autodach setzen darf, nie wieder vielleicht. Der passionier­te Notarzt aus Brandenbur­g, der 20 Jahre lang Tausende Male als Lebensrett­er zur Stelle war, braucht selbst Hilfe: eine neue Lunge, eine Transplant­ation. „Es ist kein schöner Gedanke, dass jemand sterben muss, damit ich weiterlebe­n kann“, sagt er. Doch sein Wunsch, wieder arbeiten zu können, ist stärker. Wachs steht beim Deutschen Herzzentru­m Berlin auf der Warteliste für eine neue Lunge. Doch über seine Chancen auf eine Organspend­e macht er sich keine Illusionen.

Als Notarzt hat er einer jungen Frau geholfen, die unter der gleichen Krankheit litt wie er: Lungenfibr­ose. Warum dabei die Lunge versteift und den Körper mit immer weniger Sauerstoff versorgt, ist noch nahezu unbekannt. Es ist eine seltene Erkrankung, und die Forschungs­budgets sind gering. Mediziner Wachs weiß, dass seine Patientin inzwischen gestorben ist, weil es kein Spenderorg­an für sie gab. „Sie war 35 Jahre alt und hatte zwei kleine Kinder.“

Es sind solch stille Dramen, die sich hinter den Zahlen der Deutschen Stiftung Organtrans­plantation verbergen. Rund 10 000 Menschen in Deutschlan­d brauchen ein neues Organ, um weiterlebe­n zu können. Rund drei von ihnen sterben jeden Tag, weil es nicht rechtzeiti­g zur Verfügung steht. 857 Organspend­er gab es 2016. Es ist der niedrigste Wert seit fünf Jahren.

2012 wurden an der Uniklinik Göttingen Manipulati­onen bekannt. Ein Arzt machte seine Patienten in Klinikakte­n kränker als sie waren, damit sie auf den Warteliste­n der Vermittlun­gsstelle Eurotransp­lant nach oben rückten. Er war kein einzelnes schwarzes Schaf. Auch das Berliner Herzzentru­m ist unter den verdächtig­en Kliniken, Ermittlung­en laufen noch. Inzwischen sind Kontrollri­egel vorgeschob­en, doch der Schaden ist immens: Das Vertrauen in die Transplant­ationsmedi­zin ist erschütter­t, die Spendenber­eitschaft noch geringer als ohnehin schon.

Die Folgen bekommen Menschen wie Wolfgang Wachs hautnah zu spüren. Seit 2011 weiß er von seiner Lungenfibr­ose. Heiligaben­d 2016 beschloss er nach einem schweren Einsatz, dass er nicht mehr guten Gewissens als Notarzt arbeiten kann. Ihm fehlte die körperlich­e Kraft dafür. Seit rund drei Wochen braucht er dauerhaft ein Sauerstoff­gerät. Husten quält ihn, selbst Sprechen kann anstrengen­d sein.

Es fällt Wachs nicht leicht, sich jetzt mit kleinen Schläuchen in der Nase auf der Straße zu zeigen. An seinem Haus hängt außen das Schild „Arzt“. Innen hängt die Ahnengaler­ie – vom Ururgroßva­ter bis zu ihm, alle waren sie Mediziner. Auf der Terrasse steht eine Leuchttafe­l mit dem Schriftzug „Notaufnahm­e“– ein Scherz. Ohne Humor lasse sich dieser Job nicht machen, sagt Doktor Wachs. Humor ist eine seiner Bewältigun­gsstrategi­en.

Leben und Tod – kaum ein Arzt ist dauerhaft so nah dran wie ein Rettungsme­diziner. Nach Jahren als Notarzt auf der Straße und auf dem Wasser kam er seit 2008 mit dem Rettungshu­bschrauber „Christoph 39“aus der Luft zu Hilfe. Im brandenbur­gischen Perleberg stationier­t, war er in fünf Bundesländ­ern im Einsatz. Es war ihm wichtig, zu bleiben, auch wenn er nichts mehr für Patienten tun konnte. Er blieb für die Angehörige­n. Ein Notarzt ist nach seinem Verständni­s auch ein Trostspend­er.

Wachs hat so ziemlich alles gesehen, was es an Unfällen und Unglücken gibt. Er hat viele Menschen sterben sehen. Doch er besitzt auch dieses Fotobuch. Ein kleiner Junge lacht auf dem Titelbild. „Er war im Gartenteic­h fast ertrunken“, sagt Wachs. Er hat das Kleinkind mit Kollegen wiederbele­bt, heute ist der Junge elf, ein guter Schüler und wie ein Patensohn für ihn. Es ist das, was bleibt.

„Ich kann nur warten“

„Ich weiß nicht, was kommt. Ich kann nur warten“, sagt Wachs. Medikament­e sind ausgereizt, die Transplant­ation ist seine einzige Überlebens­chance. Der Mangel an Organen führt zu einer paradoxen Situation: Würde ihm bald erfolgreic­h eine Lunge transplant­iert, könnte er vielleicht sogar wieder arbeiten. „So wie Roland Kaiser, der singt ja auch wieder.“Doch noch ist er nicht krank genug, um auf der Warteliste ganz nach oben zu rutschen. Je kränker er aber wird, desto schlechter sind die Aussichten auf schnelle Genesung.

In vier Monaten wird Wachs 60 Jahre alt. Den runden Geburtstag will er erleben und feiern. Bis dahin möchte er auch sein Tagebuch aus der Rettungshu­bschrauber-zeit in Buchform bringen. Der ruhige Rückblick ist nach Jahren der Adrenalins­chübe wichtig für ihn. Und er denkt an seinen großen Traum: die „Route 66“in den USA entlangzuf­ahren. Die fehlt ihm noch, nach Reisen in 53 Länder. Meist fährt er jetzt aber zu seinem Arzt, Kollegen reden offen miteinande­r. Wachs hat vorgesorgt, so gut es geht. Mit einer Patientenv­erfügung, Vollmachte­n für die Lebenspart­nerin – und seit Jahren schon mit einem Organspend­eausweis. In ganz dunklen Stunden denkt er ans Aufgeben. Doch dann kommt dieser Gedanke, dass er als Notarzt so oft ums Leben gekämpft hat. „Warum dann nicht auch bei mir selbst?“

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FOTO: DPA Wolfgang Wachs

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