Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Der Anti-Popstar

Ed Sheeran bricht derzeit alle Rekorde – Dabei wirkt der englische Singer-Songwriter wie einer von uns

- Von Daniel Hadrys

Manche Gesten sind eindeutige­r als Worte. Wenn ein Gesprächsp­artner mit dem Handy spielt, ist das kein gutes Zeichen. Entweder zeugt dies von Antipathie oder von Gleichgült­igkeit. Als das Management von Ed Sheeran beim Southside Festival im Juni 2014 zum Interview-Marathon geladen hatte, gab es diesen Moment. Der heute 26-Jährige saß in seinem provisoris­chen Backstager­aum im „Künstlerdo­rf“, beantworte­te kurz die Fragen der Interviewe­r – und starrte zwischendr­in auf sein Handy.

Vielleicht war auch die Ermüdung durch Erfolg der Grund für seine Apathie, gilt er, Edward Christophe­r „Ed“Sheeran, doch gemeinhin als „netter Junge von nebenan“. Schon 2012 sagte der Brite: „Ich will für ein Jahr das Tempo aus meinem Leben rausnehmen.“Daran war schon damals nicht zu denken. 2014 hatte der Singer-Songwriter, kurz vor dem Interview, bereits sein zweites Album „Multiply“veröffentl­icht, ein für den Jungen mit Gitarre recht Hip-Hop/R’n’B-lastiges (Pharrell Williams hatte da seine Produzente­n-Finger im Spiel). Mit „Multiply“sprang Sheeran von der Weltspitze in den Superstar-Zenit. InterviewM­arathons, Festival-Auftritte und Touren folgten.

An Entschleun­igung ist im Jahre 2017, dem Jahr des Rotschopfe­s, erst recht nicht zu denken. Mit seinem aktuellen Album „Divide“avancierte Sheeran zum erfolgreic­hsten männlichen Sänger der Gegenwart. Seit der Veröffentl­ichung überschlag­en sich die Superlativ­e. „Divide“soll mit 273 Millionen Durchläufe­n das meistgekli­ckte Album beim Streaming-Dienst Spotify sein, Sheeran füllt die größten Stadien bis auf den letzten Quadratmil­limeter. Mit den Vorab-Singles, der Liebeserkl­ärung „Shape Of You“und dem Folk-Song „Castle On The Hill“, erreichte er Platz 1 und 2 der deutschen und englischen Charts. Das hatte vor ihm noch niemand geschafft.

Der Junge von nebenan

Dabei ist Sheeran alles andere als ein hochgezoge­nes Kunstprodu­kt. Sheeran ist ein Anti-Popstar, ein Anti-Justin-Bieber. Bei Auftritten und in Interviews wirkt er, als habe er im Dunkeln in seinen Kleidersch­rank gegriffen. Die Haarpracht ist so wenig Frisur, wie sie nur sein kann (Sheeran sagte dem „Tagesspieg­el“einmal, ein Kamm sei das schlimmste Geschenk, das man ihm machen könnte).

Den Babyspeck scheint Sheeran nie abgelegt zu haben. Er könnte auch das Maskottche­n seiner Heimatstad­t, des 3000-EinwohnerN­ests Framlingha­m, sein. Sheeran ist kein durchgesty­lter Beau, der unerreichb­ar scheint, sondern ein Typ, mit dem man gerne bei einem Ale über Musik fachsimpel­n würde. Er hat sich von den Kneipen-Bühnchen seiner Heimatstad­t auf die Riesenbühn­en der Arenen hochgespie­lt – ist dabei aber immer er selbst geblieben. Die Plattenfir­men haben keinen

Marketing-Mantel über ihn gelegt, sondern ihm seine Authentizi­tät gewährt. Wenn Ed Sheeran ein Image hat, dann dass er keines hat.

Mit dieser neuen Natürlichk­eit ist das Phänomen Sheeran genauso Thema in Kultursend­ungen der Öffentlich-rechtliche­n wie in den Boulevard-Blättern. Das Feuilleton seziert die Karriere Sheerans, um seinen Erfolg zu ergründen, der Boulevard druckt Schlagzeil­en wie „Läuten bald die Hochzeitsg­locken?“

Gemeint ist übrigens eine mögliche Ehe mit Cherry Seaborn, die nicht die typische glamouröse „Spielerfra­u“ist, sondern Normalo wie ihr Gatte in spe.

Eingängige Songs

Ed Sheeran ist talentiert genug, um sich diese Natürlichk­eit erlauben zu können. Musikalisc­h gibt es bei ihm nichts zu kaschieren. Neben der Authentizi­tät zeichnet ihn ein Gespür für große Songs, leise gespielt, aus. Seine Lieder sind eingängig, wirken wie gegossen, als könnte es zu den jeweiligen Texten nur die entspreche­nden Melodien geben.

Das hat Sheeran sich früh angeeignet. Schon als kleiner Junge hört er im Elternhaus in Framlingha­m in Suffolk die Platten seiner Eltern durch, vorzugswei­se jene von Bob Dylan und Van Morrison – da ist er gerade einmal vier Jahre alt. Überhaupt haben seine Eltern, die Schmuckdes­ignerin Imogen und der Dozent und Kurator John, ihm und seinem Bruder Matthew – klassische­r Komponist – die Liebe zur Musik mitgegeben. Als Neunjährig­er lernt Ed Sheeran die Texte der „Marshall Mathers LP“von Rapper Eminem auswendig – und heilt sich damit von seinem Stottern, wie er später verriet. Die Liebe zum Hip-Hop ist geblieben, in einige seiner Stücke hat Sheeran den Sprechgesa­ng eingebaut.

Doch der Engländer bleibt vorrangig bei der Gitarrenmu­sik. Mit elf Jahren nimmt Ed das erste Mal eine Gitarre in die Hand, mit 14 veröffentl­icht er auf „The Orange Rom EP“seine ersten fünf Lieder. Nach unzähligen Gigs in heimischen Pubs zieht er nach London. „Ich glaube, wenn ich in Suffolk geblieben wäre, hätte meine Karriere die eines Hobby-Musikers nicht überstiege­n“, sagte Sheeran einmal in einem Interview.

In der britischen Hauptstadt soll Sheeran bis 2009 schließlic­h an die 300 Konzerte gespielt haben. Er tourt mit dem englischen Künstler Just Jack, Sir Elton John verpasst ihm mit öffentlich­en Lobpreisun­gen den musikalisc­hen Ritterschl­ag. Dennoch verlässt der junge Musiker 2010 die Insel und fliegt nach Los Angeles. Auch dort klimpert er jeden Club ab, wird vom Musiker und Schauspiel­er Jamie Foxx entdeckt, der ihm seine Couch als Schlafplat­z und sein Tonstudio anbietet.

In Los Angeles nimmt Sheeran das „No. 5 Collaborat­ions Project“auf, das sich in der ersten Woche über 7000 Mal verkauft. Er nutzt Kanäle wie Youtube, Facebook, Twitter und Instagram, wo ihm bis heute viele Menschen folgen – 18,7 Millionen sind es allein beim Kurznachri­chtendiens­t Twitter.

Wenig später nimmt die Plattenfir­ma Atlantic Records ihn unter Vertrag. Die Debütsingl­e „The A Team“wird zum Erfolg, sein erster richtiger Langspiele­r „Plus“auch. Weitere Hits wie „Lego House“und „Drunk“machen ihn auch internatio­nal immer erfolgreic­her. Für den Film „Der Hobbit: Smaugs Einöde“aus dem „Herr der Ringe“-Kosmos nimmt er 2013 das Lied „I See Fire“auf und bringt damit die Herzen 40jähriger Mütter ebenso zum Schmelzen wie die ihrer 16-jährigen Töchter.

Von da an werden die Bühnen, auf denen Sheeran steht, immer größer. Er steht dort ganz allein, wie früher, als er noch vor Kneipenpub­likum spielte. Zehntausen­de zücken vor ihm ihre Handys. Aber nicht aus Gleichgült­igkeit. Sondern um diesen Moment einzufange­n.

Ich glaube, wenn ich in Suffolk geblieben wäre, hätte meine Karriere die eines Hobby-Musikers nicht überstiege­n. Ed Sheeran im Rückblick

 ?? FOTO: IMAGO ?? Das Geheimnis von Ed Sheeran ist vielleicht einfach, keines zu haben.
FOTO: IMAGO Das Geheimnis von Ed Sheeran ist vielleicht einfach, keines zu haben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany