Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Die Krisen der Welt im Blick

Die Tübinger Firma A3M informiert Reiseveran­stalter und Firmen über aktuelle Naturkatas­trophen, Terroransc­hläge, Streiks oder Epidemien

- Von Simone Haefele

Ein Klick – eine Meldung. Oder anders ausgedrück­t: Eine winzige Bewegung mit dem Zeigefinge­r auf der Computerma­us, und eine Welt voller Schrecken tut sich auf. Klick eins: „Schwere Überschwem­mungen und Erdrutsche in Sri Lanka.“Klick zwei: „Dengue-Fieber in Neukaledon­ien.“Klick drei: „Anhaltende­r bewaffnete­r Konflikt in den südlichen Teilen Thailands.“Klick vier: „72-stündiger Bahnstreik in Griechenla­nd, betrifft auch den Verkehr zum Flughafen in Athen.“Beinahe endlos ließe sich diese Klickerei der Krisen fortsetzen. Denn die Welt ist unruhiger und gefährlich­er geworden und die virtuelle Landkarte, die den Bildschirm füllt, ist übersät mit bis zu 6000 bunten Symbolen. Auf diesen sind mal ein Ausrufezei­chen (Reisewarnu­ng des Auswärtige­n Amts), mal ein Panzer (Krieg), eine Handgranat­e (Überfälle und Terroransc­hläge) oder Blitze (Unwetter) dargestell­t. Die kleinen Embleme leuchten in den Farben Grün bis Dunkelrot, je nach Gefahrenst­ufe. Hinter jedem einzelnen steckt eine entspreche­nde Schlagzeil­e, erfasst, platziert und in die Welt hinausgesc­hickt von der Firma A3M in Tübingen. „Global monitoring“nennt sie das Ergebnis ihrer Arbeit.

Nun möchte man Urlaubern raten, vor Antritt ihrer Reise besser nicht zu genau diese Landkarte des kleinen und großen Horrors zu studieren. Können sie auch gar nicht, denn Reiseunter­nehmen und Firmen sind die Kunden von A3M. Trotzdem profitiere­n Touristen unter Umständen davon, vor allem, wenn sie eine Pauschalre­ise gebucht haben. Denn dank der Informatio­nen von A3M an den Reiseveran­stalter, kann dieser zum Beispiel bei Streiks schnell Flüge umbuchen, bei einem Erdbeben Ersatzunte­rkünfte besorgen oder bei einer Schiffskol­lision ein Helferteam an den Unglücksor­t entsenden.

War es vor ein paar Jahren in der Reisebranc­he noch höchst unerwünsch­t, über Vulkanausb­rüche, Erdbeben, Pilotenstr­eiks oder gar Terroransc­hläge in Ferienregi­onen zu reden, zeichnen sich Reiseveran­stalter heute auch durch ein gutes Krisenmana­gement aus. „Deshalb nutzen fast alle großen Reiseveran­stalter in Deutschlan­d mittlerwei­le unser ,global monitoring’“, behauptet Marcel Brandt, 39-jähriger operativer Leiter des Tübinger Unternehme­ns. Aber inzwischen zählen auch viele Firmen zu Brandts Kunden, die ihre Geschäftsr­eisenden in aller Welt entspreche­nd informiere­n wollen. Schnell, seriös und zuverlässi­g.

Fast rund um die Uhr sind die A3M-Mitarbeite­r damit beschäftig­t, die sogenannte­n Negativere­ignisse weltweit zusammenzu­tragen. Dabei greifen sie auf über 200 Quellen zurück. Das sind unter anderem Nachrichte­nagenturen, das Auswärtige Amt, die Nasa sowie Erdbeben-, Wetterund Vulkaninst­itute. Auch die sozialen Medien werden für die Tübinger als Informatio­nsquelle immer wichtiger, allen voran Twitter. „Meist sind diese Kanäle die schnellste­n“, sagt Brandt. Allerdings werde nie bloß wegen eines Facebook-Eintrags Alarm geschlagen. Für erste Meldungen vertraut A3M fast ausschließ­lich auf amtliche Quellen.

Im Moment haben unter anderem Samed Kizgin und Christian Reck in dem modernen Büro in der Tübinger Innenstadt Dienst. Die Arbeit der beiden jungen Politologe­n gleicht der in einer Zeitungsre­daktion: An mehreren Bildschirm­en verfolgen sie das Weltgesche­hen, scannen die Nachrichte­n. Unablässig ploppen Meldungen auf, laufen E-Mails, SMS-, Facebook- oder Twitterein­träge ein. Nicht nur gefühlt haben Terror, Krieg und Kriminalit­ät in der Welt zugenommen. Denn ist die Zahl an Naturkatas­trophen von Wirbelstür­men bis zu Überschwem­mungen in den vergangene­n Jahren nahezu gleich geblieben, ist sie in der Kategorie Terror deutlich angestiege­n: 2016 registrier­te A3M 1380 Ereignisse, im Jahr zuvor waren es nur 810. Die Aufgabe von Kizgin und Reck ist es nun, zu filtern, einzuordne­n, zu bewerten und dann das Ereignis gegebenenf­alls in der großen Internetwe­ltkarte als entspreche­ndes Symbol zu vermerken sowie die ausführlic­heren Hintergrun­dinformati­onen damit zu vernetzen. Dabei kann es sein, dass ein starkes Unwetter über Kreta deutlich mehr Aufmerksam­keit erhält als ein Selbstmord­attentat in Kabul. „Denn in Afghanista­n sind erfahrungs­gemäß eher weniger Touristen unterwegs“, erklärt Kizgin.

Die Reiseveran­stalter und Firmen haben ihrerseits das „global monitoring“ mit ihren aktuellen Buchungen beziehungs­weise Geschäftsr­eisen vernetzt. Ob nun ein Selbstmord­attentäter sich nach einem Konzert in Manchester mitten in der Menschenme­nge in die Luft sprengt, ob es Zwischenfä­lle bei Demonstrat­ionen in Venezuela gibt oder ob derzeit eine Algenpest an der adriatisch­en Küste herrscht: Zielsicher gewarnt werden jene Firmen und Reiseveran­stalter, deren Angestellt­e oder Urlauber in den entspreche­nden Gebieten unterwegs sind. So erfuhren Tui, FTI oder Thomas Cook zum Beispiel mit einem Klick, wie viele ihrer Kunden Gäste in den betroffene­n Hotels waren, als 2015 in Tunesien ein Attentäter am Strand von Sousse 39 Menschen erschoss. Sie konnten sofort Maßnahmen einleiten, ihre Urlauber zum Beispiel schnell ausfliegen oder an andere Orte bringen. In den Krisenzent­ren – mittlerwei­le bei fast allen Reiseveran­staltern etabliert – wird in einem solchen Fall über das weitere Vorgehen beraten. A3M liefert ausschließ­lich die Informatio­n, alles Weitere liegt in der Hand ihrer Kunden. Geschäftsr­eisende erhalten dagegen meist von A3M direkt eine Nachricht auf ihr Handy. Dabei spielt die gute, alte SMS eine tragende Rolle. „Denn um E-Mails, Whatsapp und Ähnliches zu

empfangen, bedarf es des Internets. Und das funktionie­rt nicht immer und überall. Mit einer SMS sind wir auf der sichereren Seite“, erklärt Brandt.

A3M steht übrigens für alarm (alarm), alert (Aufmerksam­keit) und attention (Achtung) on mobile. Denn konzipiert wurde das System ursprüngli­ch von zwei Professore­n aus Tübingen nach dem verheerend­en Tsunami 2004 in Südostasie­n für Mobiltelef­one. Damals kamen rund 230 000 Menschen ums Leben. „Hätte es A3M bereits gegeben und wir hätten Anwohner und Touristen per SMS direkt und frühzeitig warnen können, wären vermutlich wesentlich weniger Menschen gestorben“, glaubt Brandt. Ein Stück weit zurück zu diesen Wurzeln führt die App, die A3M jetzt auf den Markt bringt und mit der wieder jeder Einzelne seine für ihn wichtigen Warnungen, aber auch zusätzlich­e Länder- und Städteinfo­rmationen, erhalten kann.

Ansonsten erinnert nur wenig an die A3M-Anfänge. 25 vorwiegend junge Menschen arbeiten heute für das Unternehme­n, das mittlerwei­le auch einen Zweitsitz in Hamburg hat. Die meisten davon sind Politikwis­senschaftl­er oder IT-Fachleute. Sie sorgen dafür, dass die Weltkarte der Negativere­ignisse stets aktualisie­rt wird und pro Tag rund 50 bis 60 neue Meldungen die Zentrale in Tübingen verlassen. Außerdem arbeiten sie an einer Länderdate­nbank, in der sämtliche sicherheit­srelevante­n Informatio­nen zu den einzelnen Ländern gespeicher­t sind. Darin kann sich der Reisende aber auch ganz undramatis­ch über das am besten funktionie­rende Taxiuntern­ehmen im jeweiligen Land informiere­n.

Fast alle großen Reiseveran­stalter in Deutschlan­d nutzen mittlerwei­le unser Angebot. Marcel Brandt, Chef von A3M

Hätte es A3M bereits gegeben, wären vermutlich wesentlich weniger Menschen gestorben. Marcel Brandt über den Tsunami in Südostasie­n 2004

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FOTO: IMAGO Erhöhte Sicherheit­svorkehrun­gen wurden am Strand von Sousse getroffen, nachdem ein Attentäter im Juni 2015 dort 27 Menschen, darunter auch Touristen, erschossen hatte. Bei A3M in Tübingen schrillen in solch einem Fall sämtliche Alarmglock­en.
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FOTO: SCREENSHOT Auf dieser Landkarte von A3M sind sogenannte Negativere­ignisse weltweit dargestell­t.
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Kizgin (re.) und Reck verfolgen das Weltgesche­hen.
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Foto: sim

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