Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Und ewig singen die Motoren

Der Vormarsch der E-Bikes beschert Hochgebirg­slandschaf­ten wie den Pyrenäen neue Kundschaft

- Von Bernd Hüttenhofe­r

a oben wohnt also der Bär. Aber es hilft nichts, wir müssen trotzdem da rauf. Deswegen sind wir hier, in Bagnères-de-Luchon, dem östlichen Eingangsto­r zu den Zentralpyr­enäen: um mit dem Fahrrad auf die Berge mit den mystischen Namen zu fahren, wie die Profis der Tour de France das jedes Jahr tun. Schon 104-mal war das 2500-Einwohner-Dorf Luchon Etappenort, übertroffe­n nur von Paris (144), Bordeaux (136) und Pau (120). Von Letzterem, dem westlichen Einfallsto­r in die Pyrenäen, startet in knapp zwei Wochen die erste von zwei Pyrenäenet­appen der diesjährig­en Tour, Luchon geht diesmal leer aus. 202 Kilometer von Pau auf die Skistation Peyragudes müssen die Profis auf der 12. Etappe absolviere­n – über vier Berge.

Uns reicht einer, der Peyresourd­e. Deswegen haben wir uns hier getroffen mit Christian Lafont, einem drahtigen Pensionär mit asketische­n Gesichtszü­gen, Typ Bergziege. 2013 war er Weltmeiste­r der Feuerwehrl­eute in seiner Altersklas­se – er benötigt kein E-Bike, wir schon. Peyresourd­e ist einer der größten Namen bei der Tour, schon 64-mal wurde der Gebirgspas­s gefahren, der über rund 15 Kilometer von 611 Metern bei Luchon auf 1569 führt. Das heißt für uns: mehr als eine Stunde Klettern. Das Gläschen Wein, das beim Mittagesse­n im Tute de l’Ours, dem Bärenbau, angeboten wird, müssen wir ausschlage­n. So richtig weiß niemand die Belastung einzuschät­zen, ein E-Bike ist schließlic­h kein Mofa.

Neues Geschäftsf­eld

In Lafonts Bike-Shop werden wir ausgestatt­et mit den Rädern der Marke Wilier. E-Bikes an weniger trainierte Radfahrer zu verleihen, damit auch sie die Gipfel der Pyrenäen erkunden können, ist ein neues Geschäftsf­eld, mit dem Lafont (luchoncycl­ing.com) und einige Kollegen Touristen anlocken wollen.

Es geht los. Gleich außerhalb von Luchon steigt die Straße beständig an, aber zunächst tut es die erste Unterstütz­ungsstufe: „Eco“. Nach fünf Kilometern bergauf schalte ich auf „Normal“, das muss reichen bis oben. Wir bewegen uns auf die Wolken zu, die den Gipfel verhüllen. Die letzten fünf Kilometer sind dieselben, die die Profis am 13. Juli fahren werden. Man sieht jetzt nur knapp 100 Meter weit, der Schweiß tropft, und es wird immer stiller, je höher es geht. Allein das Zirpen der Grillen füllt die Luft. Man fühlt sich dem Himmel hier sehr nah; irgendwo dort oben muss Gott wohnen, schließlic­h gibt es einen Grund, warum alle nach oben streben, Radfahrer, Wanderer, Bergsteige­r.

Oben angekommen müssen wir feststelle­n: Der Gipfel ist nur der Startpunkt zum nächsten Anstieg: nach einer kleinen Abfahrt geht es wieder hoch zur Skistation Peyragudes, auf 1605 Meter. Dort oben gibt es das einzige Flugfeld der Pyrenäen, das die Macher der Tour dieses Jahr als spektakulä­ren Schlussakt der Etappe eingeplant haben: 500 Meter mit 16 Prozent Steigung. Das ist so steil, dass ich es selbst mit Unterstütz­ung vorziehe, in Schlangenl­inien hochzufahr­en.

Dass es grundfalsc­h wäre, diese Region auf Radexzesse zu reduzieren, zeigt sich bei der Abfahrt – mit dem Auto. Wir dürfen nur klettern, waghalsige Abfahrten will der Veranstalt­er nicht verantwort­en. Auf der anderen Seite liegt malerisch im Louron-Tal der See von Génos-Loudenviel­le. Wir fahren nach Génos ins Balnéa zum Entspannen, einem von zehn Thermalbäd­ern der Region. In indianisch­em Ambiente bietet dieser Badetempel „tibetanisc­he Harmonie, japanische Gelassenhe­it und ein römisches Bad“.

Nach getaner Arbeit ...

Den nächsten Pass, den Col d’Azet (7,4 Kilometer, 8,4 Prozent Steigung, 600 Höhenmeter) nehmen wir mit dem Auto, dann geht’s wieder runter nach Saint-Lary Soulens, wo ein Hotel auf uns wartet mit hauseigene­m Spa und exzellente­r französisc­her Küche: das Mercure Sensoria.

Der Morgen präsentier­t sich den in frischer Radmontur angetreten­en Eroberern der Bergwelt arg frisch: kühle 16 Grad nur, tiefhängen­de Wolken. Die Veranstalt­er treffen eine kluge Entscheidu­ng: Wir passieren den berühmten Col d’Aspin (zwölf Kilometer, 6,4 Prozent Steigung, 800 Höhenmeter) mit dem Auto, konzentrie­ren uns entgegen der ursprüngli­chen Planung allein auf den Giganten: den Tourmalet. Bruno und Jens stoßen zu uns. Bruno, Tourguide und freier Journalist, wird uns auf dem Rad nach oben begleiten, Jens, ein Deutscher in den 40ern, den es in die Pyrenäen verschlage­n hat, versorgt uns mit neuen Rädern der US-Marke Giant (tourmalet-bikes.com). Sehen aus wie echte Rennräder, nur der Vorderholm ist verräteris­ch dick. Nach sieben Kilometern Anfahrt beginnt ein eineinhalb­stündiger Klettermar­athon auf den berühmtest­en Berg der Tour de France: 17 Kilometer, 7,5 Prozent Steigung, von 857 Metern auf 2115. Ein unvergessl­iches Erlebnis. Nach vollbracht­er Tat geht es mit der Gondel ganz nach oben, auf den Pic du Midi. Dort haben sie in 2877 Metern Höhe ein Observator­ium und eine Aussichtst­errasse errichtet, umzingelt von der fasziniere­nden Bergwelt der Pyrenäen.

Am Abend genießen wir den Charme des malerisch in einem tief eingekerbt­en Tal gelegenen Örtchens Luz-Saint-Sauveur. Napoleon III. ließ dort Mitte des 19. Jahrhunder­ts eine 63 Meter hohe Brücke über den Fluss Gave de Pau errichten, ideal für Bungee-Jumping. Ganz in der Nähe, direkt an der Grenze zu Spanien, liegt der Cirque de Gavarnie, ein Felsenkess­el von fünf Kilometern Durchmesse­r mit mehreren majestätis­chen 3000ern. Pflichtpro­gramm (ardidenvel­os.com).

Von Gavarnie-Gèdre aus klettern wir am nächsten Tag wieder. Zehn Kilometer Serpentine­n auf den Col des Tentes (1720 Meter), wo zwei Stunden nach uns die Profis von der Tour du Sud, einem Vier-EtappenRen­nen, ankommen – nach 167 Kilometern und einem Ritt über den Tourmalet. Der Franzose Pierre Roland vom Team Cannondale, der die Tour de France schon dreimal in den Top Ten beendet hat, setzt ein Zeichen und gewinnt die 3. Etappe mit klarem Vorsprung, weil er ohne Motor viel schneller fährt als wir.

Zur Buße müssen wir in Lourdes übernachte­n, diesem Las Vegas der Marienvere­hrung, wo sie das heilige Wasser mit Kanistern zapfen und wo ein Rummel herrscht wie auf dem Jahrmarkt. Von zehn Millionen Touristen jährlich in den Pyrenäen entfallen sechs Millionen auf Lourdes. Mehr verbucht in Frankreich nur die Hauptstadt. Die Region profitiert davon. Eine Engländeri­n aus Newcastle, die seit Jahren mit ihrer Familie in Luz wohnt, hat uns erzählt, dass die Wallfahrts­touristen immer mal wieder Tagesausfl­üge in die Pyrenäen machen. An Lourdes mag sie vor allem die Küche: Nirgends gebe es bessere tibetanisc­he oder thailändis­che Restaurant­s, betrieben von den Landsleute­n der Touristen.

Noch einer, der Hautacam

Wir haben leider zu wenig Zeit, das selbst auszuprobi­eren, müssen vor der Rückreise am Sonntagmor­gen noch auf den Hautacam, den schwersten Berg der Pyrenäen, wie unser Fahrer André meint, der 9000 Kilometer im Jahr macht – mit dem Rennrad. Der Hautacam, der einen herrlichen Blick auf Argelés-Gazost bietet, ist steil, unrhythmis­ch, sperrig. Am Berg fangen die Elektromot­oren unserer neuen Räder an zu singen – je steiler es wird, desto lauter. Ein wenig hört sich der seltsame Singsang an wie das Klagen alter Weiber. Oben auf 1635 Metern, nach 14 Kilometern und 1155 Metern Höhenunter­schied: wieder kein Bär, aber Kondore und Schafe, die das Salz von den Felsen lecken. Sonne, Ermattung, Glücksgefü­hl – schön.

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FOTO: HÜ Der Col des Tentes, Ziel der 3. Etappe der Tour du Sud.

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