Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Abkehr vom harten Brexit-Kurs erwartet
n Großbritannien mehren sich die Anzeichen für eine Aufweichung der harten Brexit-Strategie. Seit der vorgezogenen Unterhauswahl, die Theresa Mays Position empfindlich schwächte, misst die Premierministerin den Interessen von Handel, Industrie und der wichtigen Finanzbranche, größere Bedeutung bei. Bei einem Treffen mit Brexit-Chefunterhändler David Davis betonten führende Wirtschaftsvertreter am Freitag die Bedeutung mehrjähriger Übergangsfristen. „Wir müssen realistisch sein“, mahnte Carolyn Fairbairn vom Industrieverband CBI. „Die Details unseres neuen Verhältnisses zur EU können unmöglich bis März 2019 klar sein.“
Die Begegnung mit Industriellen und Verbandsvertretern symbolisiert den neuen Brexit-Realismus in Londoner Regierungsstuben. Der für die Torys schlechte Wahlausgang hat all jenen Aufwind gegeben, die Mays harten Kurs mit Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion für falsch halten. Dazu gehören Finanzminister Philip Hammond und Wirtschaftsminister Greg Clark. Aber sogar der eingefleischte EU-Feind Davis signalisiert Kompromissbereitschaft.
Kürzlich deutete der Minister an, dass er bei der Einwanderungskontrolle flexibel sei - flexibler jedenfalls als die Regierungschefin. Diese machte sich im vergangenen Wahlkampf das Ziel einer Netto-Immigration von unter 100 000 Menschen pro Jahr zueigen, an dem die Torys seit 2010 scheitern. Zuletzt lag die Nettoeinwanderung bei 236 000.
Davis’ Ex-Büroleiter James Chapman bezeichnet Mays Ablehnung des EuGH als Hindernis für konstruktive Verhandlungen und dürfte damit die Stimmung seines langjährigen Chefs widerspiegeln. Tatsächlich drängen Wissenschaftler und Fachbeamte darauf, die Insel solle Mitglied bei supranationalen Behörden wie der Nuklearfachstelle Euratom sowie EU-Agenturen wie der bisher in London ansässigen Medizinbehörde EMA bleiben. Das geht aber nur, wenn die Schlichtung zukünftiger Streitfälle geklärt ist.
Ganz vom Kabinettstisch scheint Mays Slogan zu sein, wonach „kein Deal besser als ein schlechter Deal“ sei. Die Idee sorgte auf dem Kontinent für Verwunderung, bei der britischen Industrie für Alarm. „Unternehmen im Ungewissen zu lassen riskiert massiven wirtschaftlichen Schaden“, urteilt Terry Scuoler von EEF, einem Fachverband führender Ingenieurfirmen. Einen Beweis dafür lieferte jüngst die fürs Königreich eminent wichtige Autoindustrie: Dort gingen Investitionen nach Angaben des Fachverbandes SMMT im vergangenen Jahr gegenüber 2015 um drei Viertel zurück.
Ohnehin geben die Wirtschaftsdaten keinen Anlass zur Freude. Zwar nahm die Wirtschaftsleistung 2016 um 1,8 Prozent zu; die Prognose für 2017 (1,9 Prozent) dürfte sich aber als zu optimistisch herausstellen. Jedenfalls lag die Insel im ersten Quartal 2017 mit Italien auf dem letzten Platz der G7-Staaten, der Zuwachs betrug nur 0,2 Prozent. Schon heute spüren viele Briten einen Rückgang ihres Lebensstandards: Die Zunahme der Reallöhne wird durch die hohe Inflation von 2,9 Prozent mehr als ausgeglichen. Das ist der Verteuerung der Importe durch den PfundAbsturz von 15 Prozent geschuldet.