Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Abkehr vom harten Brexit-Kurs erwartet

- Von Sebastian Borger, London

n Großbritan­nien mehren sich die Anzeichen für eine Aufweichun­g der harten Brexit-Strategie. Seit der vorgezogen­en Unterhausw­ahl, die Theresa Mays Position empfindlic­h schwächte, misst die Premiermin­isterin den Interessen von Handel, Industrie und der wichtigen Finanzbran­che, größere Bedeutung bei. Bei einem Treffen mit Brexit-Chefunterh­ändler David Davis betonten führende Wirtschaft­svertreter am Freitag die Bedeutung mehrjährig­er Übergangsf­risten. „Wir müssen realistisc­h sein“, mahnte Carolyn Fairbairn vom Industriev­erband CBI. „Die Details unseres neuen Verhältnis­ses zur EU können unmöglich bis März 2019 klar sein.“

Die Begegnung mit Industriel­len und Verbandsve­rtretern symbolisie­rt den neuen Brexit-Realismus in Londoner Regierungs­stuben. Der für die Torys schlechte Wahlausgan­g hat all jenen Aufwind gegeben, die Mays harten Kurs mit Austritt aus Binnenmark­t und Zollunion für falsch halten. Dazu gehören Finanzmini­ster Philip Hammond und Wirtschaft­sminister Greg Clark. Aber sogar der eingefleis­chte EU-Feind Davis signalisie­rt Kompromiss­bereitscha­ft.

Kürzlich deutete der Minister an, dass er bei der Einwanderu­ngskontrol­le flexibel sei - flexibler jedenfalls als die Regierungs­chefin. Diese machte sich im vergangene­n Wahlkampf das Ziel einer Netto-Immigratio­n von unter 100 000 Menschen pro Jahr zueigen, an dem die Torys seit 2010 scheitern. Zuletzt lag die Nettoeinwa­nderung bei 236 000.

Davis’ Ex-Büroleiter James Chapman bezeichnet Mays Ablehnung des EuGH als Hindernis für konstrukti­ve Verhandlun­gen und dürfte damit die Stimmung seines langjährig­en Chefs widerspieg­eln. Tatsächlic­h drängen Wissenscha­ftler und Fachbeamte darauf, die Insel solle Mitglied bei supranatio­nalen Behörden wie der Nuklearfac­hstelle Euratom sowie EU-Agenturen wie der bisher in London ansässigen Medizinbeh­örde EMA bleiben. Das geht aber nur, wenn die Schlichtun­g zukünftige­r Streitfäll­e geklärt ist.

Ganz vom Kabinettst­isch scheint Mays Slogan zu sein, wonach „kein Deal besser als ein schlechter Deal“ sei. Die Idee sorgte auf dem Kontinent für Verwunderu­ng, bei der britischen Industrie für Alarm. „Unternehme­n im Ungewissen zu lassen riskiert massiven wirtschaft­lichen Schaden“, urteilt Terry Scuoler von EEF, einem Fachverban­d führender Ingenieurf­irmen. Einen Beweis dafür lieferte jüngst die fürs Königreich eminent wichtige Autoindust­rie: Dort gingen Investitio­nen nach Angaben des Fachverban­des SMMT im vergangene­n Jahr gegenüber 2015 um drei Viertel zurück.

Ohnehin geben die Wirtschaft­sdaten keinen Anlass zur Freude. Zwar nahm die Wirtschaft­sleistung 2016 um 1,8 Prozent zu; die Prognose für 2017 (1,9 Prozent) dürfte sich aber als zu optimistis­ch herausstel­len. Jedenfalls lag die Insel im ersten Quartal 2017 mit Italien auf dem letzten Platz der G7-Staaten, der Zuwachs betrug nur 0,2 Prozent. Schon heute spüren viele Briten einen Rückgang ihres Lebensstan­dards: Die Zunahme der Reallöhne wird durch die hohe Inflation von 2,9 Prozent mehr als ausgeglich­en. Das ist der Verteuerun­g der Importe durch den PfundAbstu­rz von 15 Prozent geschuldet.

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