Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Eine große Portion Wildwestromantik in Daugendorf
Ein verbreitetes Laster des Menschen ist die Völlerei, nach katholischer Lehre wird diese sogar als eine von sieben Todsünden geführt. Gemeint ist die maßlose Gefräßigkeit, der die Tugend der Mäßigung gegenübersteht. Diese wiederum findet ihr Ideal in der Askese, also dem möglichst umfassenden Verzicht. Zwischen diesen beiden Extremen sitzt – wie immer gespalten – der Mensch, der eigentlich gerne vernünftig und beherrscht sein möchte, in dessen Brust aber oft ein kleiner Kerl wohnt, der immerzu fragt: „Was gibt’s zu essen?“Der Gasthof Engel in Daugendorf bei Riedlingen jedenfalls gibt all jenen ungeniert eine Heimat, die erst dann so richtig glücklich sind, wenn das Hemd über dem Ranzen spannt oder der Mageninhalt bei jedem unvorsichtigen Atemzug von unten gegen den Hals drückt. Das ist natürlich vollkommen unzeitgemäß – womöglich ein Überbleibsel aus Mangelzeiten nach dem Krieg, als die Fresswelle langsam aber sicher damals selten gewordenen Phänomenen wie Doppelkinn oder Hüftgold zu unverhoffter Blüte verhalf. Insofern ist im Engel nicht 2017, sondern 1955. Bei genauerem Hinsehen ist das Haus vielleicht noch stärker aus der Zeit gefallen, denn Gastwirt Ralf Kopp hat den alten Dorfgasthof eingerichtet nach dem, was er für den amerikanischen Traum hält: Wildwestromantik, Freiheitsstatuen und E-Gitarren an den Wänden. Das wiederum hat den Grund, dass der Wirt unter dem Namen „King Ralf“nebenberuflich Rockmusik spielt. Insofern ist das Konzept stimmig und der Wirt einfach ein großer Junge, der sich seinen Traum vom Amerika im Oberschwäbischen verwirklicht hat. Natürlich strahlt er das auch mit seiner schwarzen Lederkleidung aus, mit den langen Haaren und der Mütze sowieso.
Tja, und nun zum Essen. Wie geht eigentlich ein freundlicher Verriss? Vor dem Hintergrund, dass im Engel gewiss niemand behauptet, es gehe dort besonders filigran zu, ist es nämlich nicht ganz einfach, etwas zu kritisieren, was sich der Kritik eigentlich entzieht. Sagen wir es so: Im Engel ist das Essen eher Spektakel als Genuss. Dafür steht nichts so kolossal wie der „Mr. Burger-Meister, biggest Schnitzel-Burger in town!“. Der wiegt stramme 1,5 Kilo und wird natürlich mit einem Pommes-Gebirge serviert.
Das Gericht funktioniert so: Man nehme ein imposantes Fladenbrot, teile und belege es mit einem panierten Schweineschnitzel von den Ausmaßen eines Elefantenohrs. Dann kleistere man das Gericht mit allerlei Soßen, belege es mit einem halben Kopfsalat, Tomatenscheiben und noch mehr Soße. Deckel drauf – fertig ist das Kalorien-Inferno. Das Problem: Es schmeckt genauso, wie es sich anhört. Der Engel zelebriert bewusst Masse statt Klasse. Übrigens sind auch die Gerichte auf der TexMex-Karte, die nicht das Etikett XXL tragen, üppig bemessen. Etwa das 300-Gramm-Rumpsteak mit Westernkartoffeln. Das Fleisch ist fast durchgebraten und damit stellenweise zu trocken. Insgesamt ist der Karte anzumerken, dass die Fritteuse die wichtigste Küchenmaschine des Hauses ist. Aber: Was für ein Jauchzen und Jubeln, wenn King Ralf mit zittrigen Armen einen Jumboteller aufträgt! Da blitzen die Fotoapparate und die Magensäfte beginnen zu sprudeln.
Trotz aller kulinarischen Schwächen ist der Engel doch ein Ort zum Wohlfühlen. Ralf ist ein Wirt von einnehmender Herzenswärme, bei dem sich die verschiedensten Typen wohlfühlen. Und die Essensverschwendung? Solange sich die Leute den Rest einpacken lassen, ist die Völlerei im Engel wohl eine lässliche Sünde.