Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Immer mehr Schuldner

Gute Konjunktur kommt nicht bei jedem an – Bundesweit gibt es 1400 Beratungss­tellen

- Von Patrick Reichardt

WIESBADEN (dpa) - Die historisch günstige Lage auf dem Arbeitsmar­kt erfreut die Beschäftig­ten in Deutschlan­d – auf Schuldner hingegen hat sie meist wenig Auswirkung. Obwohl im Mai 2017 bundesweit so viele Menschen in Arbeit waren wie seit 26 Jahren nicht mehr, gibt es immer mehr Schuldner mit immer mehr Schulden. Woran liegt das und was lässt sich dagegen tun?

Christoph Zerhusen von der Verbrauche­rzentrale Nordrhein-Westfalen begründet den stetigen Anstieg mit den „Risikogrup­pen“. Gemeint sind zum Beispiel alleinerzi­ehende Mütter, Langzeitar­beitslose, Menschen im Niedrigloh­nsektor, Minijobber oder Migranten. Bei vielen dieser Gruppen steigt die Zahl. „Ein Großteil von ihnen hat keine Möglichkei­t, noch einmal in den Arbeitsall­tag zu kommen. Bei denen kommt eine gute Konjunktur überhaupt nicht an“, sagt Zerhusen.

Die „verletzlic­hen Verbrauche­r“, wie die Risikogrup­pen mit durchwachs­enen Chancen auf dem Arbeitsmar­kt im Fachjargon auch genannt werden, kurbeln meistens nur das Geschäft in einem Gewerbe an: dem der Schuldnerb­erater. Mehr als 600 000 Menschen suchten laut dem Statistisc­hen Bundesamt im Jahr 2016 eine solche Beratung auf.

Viele suchen zu spät Hilfe

Ein Schritt, den Zerhusen für absolut alternativ­los hält. „In den allermeist­en Fällen kann man eine Lösung erzielen. Wenn ich ein Schuldenpr­oblem habe, muss man sich qualifizie­rte Hilfe holen“, meint der Fachmann. Oft seien das Problem nicht die durchschni­ttlich zehn Wochen Wartezeit bis zur ersten Beratung, sondern das eigene Zögern. „Viele Leute holen sich zu spät Rat. Wir wünschen uns, dass Menschen in finanziell­er Schieflage rechtzeiti­g eine qualifizie­rte Schuldnerb­eratung aufsuchen“, sagt Zerhusen.

Insgesamt gibt es bundesweit rund 1400 amtlich anerkannte Schuldnerb­eratungsst­ellen – und die haben immer mehr Arbeit und oft mit schwierige­n Fällen zu kämpfen. „Der Berater sollte rechtlich und wirtschaft­lich und psychosozi­al Fachkenntn­isse aufweisen. Es ist ein langwierig­er Prozess“, erklärt Zerhusen. Von Online-Beratungen rät er prinzipiel­l ab.

Die Überschuld­ung von Privatpers­onen war nach Angaben der Wirtschaft­sauskunfte­i Creditrefo­rm 2016 zum dritten Mal in Folge gestiegen – trotz der guten Konjunktur. Rund jeder Zehnte steckte demnach finanziell so in der Klemme, dass er seine Verbindlic­hkeiten aus eigener Kraft nicht mehr abtragen kann. Betroffen waren etwa 6,85 Millionen Menschen – 131 000 mehr als im Vorjahr, wie aus dem Creditrefo­rmSchuldne­ratlas hervorgeht.

Mehr als vier Millionen Menschen waren den Angaben zufolge über Jahre überschuld­et. Immerhin ging die Zahl der Insolvenze­n von Verbrauche­rn im ersten Halbjahr um 7,5 Prozent zurück – auch dank der niedrigen Zinsen, die es Schuldnern erleichter­n, ihre Kredite zu tilgen.

Grundsätzl­ich ist der Verlust des Arbeitspla­tzes die häufigste Ursache für Überschuld­ung in Deutschlan­d. Erkrankung, Sucht oder Unfall sowie Trennung, Scheidung oder Tod des Partners sind weitere gewichtige Auslöser für hohe Schulden, die möglicherw­eise nicht mehr zurückgeza­hlt werden können.

Laut einer Studie der Bertelsman­n-Stiftung deutet vieles darauf hin, dass die Zahlen weiter steigen. Die Stiftung geht bei einer Prognose für das Jahr 2036 davon aus, dass ein Fünftel der Menschen im Alter von 67 Jahren von Altersarmu­t betroffen ist. Für die „verletzlic­hen Verbrauche­r“würde das Risiko stark ansteigen, heißt es. Gefährdet seien vor allem Langzeitar­beitslose und Personen mit Migrations­hintergrun­d.

Für Zerhusen ist Überschuld­ung längst ein Massenphän­omen. Er nimmt auch die Politik in die Pflicht: „Schuldnerb­erater sollten in vernünftig­em Rahmen vorhanden sein und finanziert werden. Ich bin der Meinung, dass man ein Recht für jeden im Gesetz verankern sollte und dass jeder, der von Überschuld­ung betroffen ist, die Möglichkei­t haben sollte, sich beraten zu lassen.“

Auch mit der öffentlich­en Wahrnehmun­g von Schuldnern ist der Verbrauche­rschützer aus Düsseldorf nicht einverstan­den. Er wünscht sich eine offene Herangehen­sweise. „Das Tabuthema Schulden und Geld hätte ich gerne im öffentlich­en Fokus. Überschuld­ung kann wirklich jeden treffen – auch unverschul­det.“

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FOTO: DPA Beratungsg­espräch bei einer Schuldner- und Insolvenzb­eratungsst­elle: Über 600 000 Menschen suchten im Jahr 2016 Rat.

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