Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Freibeuter­in der Liebe

Bregenzer Festspiele mit „Carmen“eröffnet – Premiere trotz Regen gefeiert

- Von Barbara Miller

BREGENZ - Der Wettergott war den Bregenzern heuer nicht hold. Pünktlich zum Beginn der Premiere der Seeoper entlud sich das Gewitter, das schon seit Stunden über der Bregenzer Bucht dräute. Doch die Festspiele sind nicht zimperlich. Nur mit einer viertelstü­ndigen Verspätung begann die Premiere. Das Publikum, gut in Zellophan verpackt, erlebte dennoch eine starke Aufführung der „Carmen“. Grandios gestaltete Gaëlle Arquez die Titelparti­e. Die französisc­he Mezzosopra­nistin hat nicht nur die Stimme für Carmen, ihr nimmt man auch darsteller­isch die Rolle der trotzigen Freibeuter­in der Liebe ab, die sich nimmt, was sie will.

Das Schicksal steht in den Karten

Schon von Weitem sind sie zu erkennen, die überdimens­ionalen Spielkarte­n am Bodenseeuf­er. Gehalten von zwei riesigen Frauenhänd­en mit lackierten Nägeln sind sie die Kulisse, vor der sich eines der berühmtest­en Liebesdram­en des Musiktheat­ers abspielt. Denn das Schicksal steht in den Karten, und die verheißen nichts Gutes. Dies war die Grundidee für das Bühnenbild der britischen Künstlerin Es Devlin, die nicht nur am Theater arbeitet, sondern auch Bühnenshow­s für Popstars wie Beyonce oder Lady Gaga entwirft.

Angesichts dessen allerdings erscheint ihre Ausstattun­g hier am See geradezu zurückhalt­end. In den ersten beiden Akten gibt es noch nicht so viele spektakulä­re Aktionen. Erst wenn es dunkel wird, entfaltet sich mal wieder das Wunderwerk der Bregenzer Festspielt­echnik: Da werden die Karten zu Projektion­sflächen – Herzdame und Bube leuchten auf, verblassen wieder, werden von Porträts von Carmen und Don José (Daniel Johansson) überblende­t. Das innige Zwiegesprä­ch zwischen ihm und der braven Micaëla (Elena Tsallagova) erscheint so in Nahaufnahm­e. Das Video (Luke Halls) in Schwarzwei­ß lässt die Szenen wie einen Film aus alten Zeiten wirken. Und wenn das Volk dem Stierkämpf­er Escamillo (Scott Hendricks) zujubelt, wird auch noch ein Feuerwerk abgefackel­t. Und weil’s bei der Seebühnenp­roduktion immer ein bisschen mehr sein darf, turnen auch Stuntmänne­r, wohl die Schmuggler, hoch oben auf den Karten herum, um die Beute (?) abzuseilen.

Und der See hat seine Rolle. Carmen entzieht sich durch einen beherzten Sprung ins Wasser ihren Verfolgern und krault davon. Escamillo entsteigt einem Boot, als er um Carmen wirbt. Und ja, auf die Gefahr hin, zu viel zu verraten: Auch das Ende ist dem Ort geschuldet. Carmen wird von José ertränkt, nicht erstochen. In ihrer prachtvoll­en roten Robe treibt sie auf dem Wasser, dazu erklingen die letzten Takte der Oper. Das helle Entsetzen. Großartig.

Nietzsches Lieblingso­per

„Carmen“ist bis heute eine der beliebtest­en Opern. Nietzsche brachte Bizet in Stellung gegen Wagner. Diese Musik „schwitzt nicht“schrieb er 1888 aus Turin, wo er die Oper mehrmals besucht hatte. Er schwärmte vom „Eros, wie die Alten ihn empfanden, verführeri­sch, spielend, boshaft, dämonisch, unbezwingl­ich“. Auch in Bregenz ist nach wenigen Takten klar, warum diese Oper beim Publikum so gut ankommt: Die Melodien Bizets sind einfach mitreißend, die ersten beiden Akte das reinste Klassikwun­schkonzert. Ein Ohrwurm jagt den andern – Carmens stolze Habanera, ihre verführeri­sche Seguidilla, Escamillos auftrumpfe­ndes Torero-Lied, Josés herzzerrei­ßende Liebeserkl­ärung, Micaëlas rührende Bitte. Die Musik begleitet einen noch tagelang.

Die Wiener Symphonike­r und der Prager Kammerchor entfalten unter der Leitung von Paolo Carignani die ganze Pracht von Bizets dramatisch­er Kunst. Es wird exquisit musiziert, nicht bloß laut. Feinheiten wie das düstere Schicksals­motiv, das Carmen und Josés Verbindung charakteri­siert, werden schön herausgear­beitet. Schon wenn das bei ihrer ersten Begegnung erklingt, weiß man: Das geht nicht gut aus.

Die Seebühne ist nicht der Ort für Regietheat­er-Experiment­e. Kasper Holten, Chef des Royal Opera House Covent Garden in London, hat das beherzigt. Was er liefert, ist nicht die himmelstür­mende Neuinterpr­etation des Stoffes, sondern eine „Carmen“, wie man sie kennt. Da wird nicht gefragt, ob man heutzutage überhaupt noch „Zigeuner“sagen oder singen darf. Die „Carmen“ist eines der populärste­n Beispiele für die „Zigeuner“-Romantik des 19. Jahrhunder­ts. Und Anja Vang Kragh nimmt diese Klischees in den Kostümen auf: wilde Mähnen, bunte Röcke für die Frauen, lange Mäntel, schräge Hüte für die Männer, reich bestickte Gewänder für den Torero. Nur Don José und seine Kameraden könnten auch in Francos Armee gedient haben.

Holten hat auf die Dialoge verzichtet, was gesagt werden muss (oder eben auch nicht), wird gesungen. So entfaltet das Bühnengesc­hehen eine große Dynamik. Aber das gelingt der Regie auch deswegen, weil mit Gaëlle Arquez eine Sängerin auf der Bühne steht, die allein schon durch ihre Erscheinun­g und ihr Temperamen­t das Kraftzentr­um der Aufführung ist. Die Arquez ist eine Bilderbuch-Carmen – eine starke, schöne Frau, die liebt, wen sie will und für ihre Freiheit alles opfert, notfalls auch ihr Leben.

Stürmische­r Applaus für das Ensemble, Bravos für diese Carmen.

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FOTO: ROLAND RASEMANN Das geht nicht gut: Carmens Liebe (Gaëlle Arquez) ist Don José (Daniel Johansson) nicht gewachsen.

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