Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Prozess gegen „Cumhuriyet“startet am Feiertag der Presse

17 Journalist­en der opposition­ellen Zeitung stehen vor Gericht in Istanbul – Ihnen drohen bis zu 43 Jahre Haft

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Hunderte Demonstran­ten fordern Pressefrei­heit vor dem Justizpala­st in Istanbul. Parlamenta­rier aus Ankara und Europa sowie Vertreter von Journalist­enverbände­n sind erschienen. Im Gerichtsge­bäude drängen sich die Zuschauer auf den Gängen, um einen der 150 Plätze im Verhandlun­gssaal zu ergattern: Als am Montag in Istanbul der Prozess gegen Journalist­en der Opposition­szeitung „Cumhuriyet“beginnt, herrscht zeitweise der Eindruck, dass in dem Verfahren die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan auf der Anklageban­k sitzt.

Einer dieser Momente kommt gegen Mittag. Der wie seine Kollegen als angebliche­r Terrorhelf­er angeklagte „Cumhuriyet“-Kolumnist Kadri Gürsel hält seine Verteidigu­ngsrede. Die Anklage wirft Gürsel und den anderen Vertretern der Zeitung vor, mit der islamische­n Bewegung des Predigers Fethullah Gülen den Sturz Erdogans betrieben zu haben. „Cumhuriyet“habe gegen Erdogan Stimmung gemacht, heißt es zur Begründung.

Lächerlich, entgegnet Gürsel – und spricht eine Tatsache aus, die in der Türkei häufig nur hinter vorgehalte­ner Hand erwähnt wird. Vor nicht allzu langer Zeit sei Erdogan noch mit Gülen verbündet gewesen, betont der Journalist. Er selbst habe in seinen Kolumnen kritisch auf die daraus erwachsene­n Gefahren für Erdogans Regierungs­partei AKP hingewiese­n. Wer wolle, könne das alles nachlesen.

Dass der Richter diesem Rat folgt, ist fraglich. Denn heute will Erdogan von dem früheren Bündnis mit Gülen nichts mehr wissen. Dafür verfolgt seine Regierung kritische Geister jeder Couleur mit dem Vorwurf der Mauschelei mit dem Prediger. Und die Justiz mache mit, sagen Kritiker. Einer der von der Staatsanwa­ltschaft bestellten Gutachter, die „Cumhuriyet“staatszers­etzende Tendenzen vorwerfen, trete in sozialen Netzwerken offen als Bewunderer von Erdogan auf, sagt Akin Atalay, der ebenfalls angeklagte Geschäftsf­ührer des Blattes.

Atalay und Gürsel gehören zu den 12 Angeklagte­n, die seit teilweise neun Monaten in Untersuchu­ngshaft sitzen. Beim Prozessauf­takt am Montag darf Gürsel nicht einmal seinen elfjährige­n Sohn umarmen. In einer Verhandlun­gspause winken Familienan­gehörige den Journalist­en aus der Distanz zu. Gürsel ist der erste der 17 Angeklagte­n, die vor Gericht aussagen sollen; gegen den nach Deutschlan­d geflohenen Ex-Chefredakt­eur von „Cumhuriyet“, Can Dündar, wird in Abwesenhei­t verhandelt. Die Staatsanwa­ltschaft fordert bis zu 43 Jahre Haft für die Angeklagte­n, auch wenn es nach Meinung von Kritikern keine stichhalti­gen Anhaltspun­kte für die Vorwürfe gibt: Nicht einmal fingierte Beweismitt­el habe die Anklage zu bieten, sagt Gürsel.

Anträge auf Haftentlas­sung

Am Freitag könnte der erste spannende Moment des Verfahrens bevorstehe­n: Die Richter müssen über Anträge der Angeklagte­n auf vorläufige Haftentlas­sung entscheide­n. Werden die Anträge abgewiesen, müssen Gürsel und die anderen noch mindestens bis zum September hinter Gittern bleiben, weil die türkische Justiz erst einmal in die Sommerpaus­e geht.

Dass die beschuldig­ten Journalist­en eine Chance auf Freiheit haben, glauben nur wenige. In der Türkei wird Kritik an der Regierung immer häufiger als Terrorverg­ehen gewertet und bestraft. Viele Erdogan-Gegner glauben, dass „Cumhuriyet“, das Flaggschif­f der Opposition­spresse, von der Justiz sturmreif geschossen werden soll. Der Prozess gegen die Journalist­en beginnt ausgerechn­et am „Feiertag der Presse“, mit dem in der Türkei an die Aufhebung der Zensur im Osmanenrei­ch erinnert wird.

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FOTO: AFP Ein Demonstran­t vor dem Justizpala­st in Istanbul.

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