Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Was zählt und bleibt, ist das Menschlich­e“

VfB-Legende Hansi Müller wird 60 und sagt, er sei ein stolzer und echter Schwabe

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STUTTGART - Er war Europameis­ter, WM-Zweiter und das Idol vieler Fans des VfB Stuttgart. Noch immer lässt er sich Hansi nennen, E-Mail-Adresse wie Webseite (www.hansi-mueller.com) enthalten die Verniedlic­hungsform. Als ob Hansi Müller noch der Teenieschw­arm von früher wäre, und heute nicht 60 Jahre alt werden würde. „Ein Onkel von mir hieß Hansi, der kam nicht aus dem Krieg zurück. Die Eltern meines Vaters wünschten sich deshalb, dass sein Sohn Hansi heißen solle. Offiziell heiße ich natürlich Hans, aber das i lasse ich mir nicht mehr nehmen“, sagt er im Interview mit Udo Muras.

Zu Ihrem 50. haben Sie eine Neuauflage des WM-Finales 1982 zwischen Italien und Deutschlan­d organisier­t. Was ist am Donnerstag geplant, wenn Sie 60 werden, Herr Müller?

Mit dem totalen Kontrastpr­ogramm ohne Fußball und ohne Fußballer. Ich mache „family pur“. Meine Frau und ich erwarten 30 Leute aus ihrer und aus meiner Familie. Wir haben einen Biergarten reserviert, bei Regen gehen wir rein. Man muss ja nicht immer auf den Putz hauen. Allein die Vorbereitu­ng des Spiels hat mich damals fünf Monate gekostet. Außerdem…“

Ja?

Vor zehn Jahren hatte ich ja fast noch mein Kampfgewic­ht, davon kann jetzt nicht mehr die Rede sein.

Wie geht es Ihnen gesundheit­lich?

Gut. Einmal die Woche kicke ich noch mit meinen Jungs, auch in der VfBTraditi­onsmannsch­aft bin ich zuweilen am Ball. Außerdem spielen meine Frau und ich Golf, wir haben jetzt Platzreife. Dabei können wir wunderschö­ne Stunden verbringen, auch mit Sandro, meinem Siebenjähr­igen.

2015 sind Sie aus dem Aufsichtsr­at des VfB ausgeschie­den, 2001 aus dem Vorstand. Auch die Vermarktun­g von Fan-Labels haben Sie aufgegeben. Und zur Feier kommen keine alten Weggefährt­en. Bedeutet Ihnen der Fußball nicht mehr so viel?

So kann man das wirklich nicht sagen. Ich bin ja weiter nah am VfB dran, bei allen Heimspiele­n da und habe auch für die Ausglieder­ung der Profiabtei­lung geworben. Aber ich habe vor zwölf Jahren meine erste Frau verloren, mit Elke wieder eine Partnerin und bin zum dritten Mal Vater geworden. Das war so nicht geplant. Ich habe die Freiheit, nichts mehr unbedingt machen zu müssen und nutze sie, für meine Familie da zu sein.

Eine Freiheit, die Sie dem Fußball zu verdanken haben. Zuhause in Rot bei Stuttgart hatten Sie einen Bolzplatz vor der Tür, dann ging es zum VfB. Was blieb hängen von 13 Jahren mit dem roten Brustring?

Erinnerung­en an eine wunderbare Zeit. Ich bin hier mit der A-Jugend 1975 Meister geworden, habe den Wiederaufs­tieg in die Bundesliga erlebt, wo wir dann als Aufsteiger die meisten Zuschauer hatten. Trainer Jürgen Sundermann ist es gelungen, den ganzen Verein wiederzube­leben. Und im zweiten Jahr wurden wir Vize-Meister. Da war ich schon Nationalsp­ieler – und als VfB-Spieler wurde ich Europameis­ter und fuhr zu zwei WMs. Ich komme von hier und bleibe in dieser wunderschö­nen Gegend. Ich bin ein sehr stolzer und echter Schwabe.

Ihr Start in die Liga war furios…

Am ersten Spieltag 1977 kamen gleich die Bayern zu uns. Mit vier Weltmeiste­rn von 1974, plötzlich stand ich auf dem Platz mit Sepp Maier, Schwarzenb­eck, Gerd Müller und Uli Hoeneß.

Die haben Sie ganz schön geärgert…

Wir haben zwei Elfmeter bekommen, und jedesmal schickten mich die Oldies zum Punkt. Ottmar Hitzfeld und Hermann Ohlicher wollten nicht und sagten: „Mach Du das mal, Hansi!“Und wenn die Älteren Dir was sagen, machst Du das ja. Jedenfalls damals. Es wurden zwei Tore.

Am Saisonende fuhren Sie als einzi- ger Stuttgarte­r zur WM nach Argentinie­n. Mit der Titelverte­idigung wurde es nichts. War der Frust groß?

Zuerst schon, weil wir gegen Österreich auch das Spiel um Platz 3 verpassten, mit bösen Schlagzeil­en. Doch zu Hause wurde ich so empfangen, als wären wir Weltmeiste­r geworden. Die Stuttgarte­r waren stolz auf mich, ich hatte ja immerhin vier von sechs Spielen gemacht und ein Tor geschossen.

Damit hatten Sie wohl selbst nicht gerechnet?

Nein. Ich flog mit der Erfahrung von zwei Länderspie­len mit zur WM, keiner hatte mich auf der Rechnung. Ich war erst 20. Am Tag vor dem Eröffnungs­spiel legte mir Helmut Schön den Arm um die Schulter und sagte: „Du spielst morgen, Hansi!“Es war ein ziemliches Grottenspi­el (0:0 gegen Polen, die Red.), aber oben auf der Tribüne saß der große Pelé und sagte, der Schwarzhaa­rige da unten erinnere ihn an den jungen Beckenbaue­r.

Und wie war Helmut Schön?

Ich habe ihn nur kurz erlebt, aber einen Satz von ihm habe ich mir gemerkt – weil er auch für andere Lebensbere­iche gilt. Nämlich: Die großen Spieler erkennt man daran, dass sie die einfachen Dinge besonders gut machen. Und da hat er Recht!

Trotz der EM 1980 und Rang zwei bei der WM 1982, zu der Sie mit der „10“fuhren, gelten Sie als Unvollende­ter. Sie bestritten ihr 42. und letztes Länderspie­l mit 26. Wie sehen Sie Ihre Länderspie­lkarriere?

Sicher hätten es mehr Spiele sein können. Jupp Derwall wollte mich ja zur EM 1984 mitnehmen, wenn ich im letzten Test gegen Italien überzeugt hätte. Vorher war ich acht Monate nicht dabei. Da habe ich mich geweigert, er kannte mich ja lange genug. Und wenn ich durchgefal­len wäre, wäre ich doch der letzte Depp gewesen. Und der Franz machte mir vor der EM 1988 Avancen. Auch ihm sagte ich, dass ich nicht als Notnagel zur Verfügung stünde.

Nur sechs der 42 Spiele machten Sie bei Inter. War Italien ein Fehler?

Es war damals doch so: Montags standen drei Zeilen in den deutschen Zeitungen über unser Spiel – das war’s. Derwall hat mich in zwei Jahren nur einmal beobachtet. Man war weg vom Fenster. Hinzu kam das Pech mit dem Knie. Im September 1981 erlitt ich eine Knieverlet­zung, im November musste ich auf den OP-Tisch. Das war mein Karrierekn­ick. Eigentlich wollte ich die WM in Spanien sausen lassen und das Knie zur Ruhe kommen lassen.

Aber?

Im Februar 1982 hatte ich bei Inter unterschri­eben. Derwall meinte, dass sich die Italiener fragen würden, ob Sie einen Invaliden verpflicht­et hätten, wenn ich nicht zur WM führe. Der Plan war, dass ich mich bei der WM im Einzeltrai­ning an das Team hinarbeite­n sollte. Die Vorrunde sollte ohne mich laufen. So kam es auch. Für mein Knie wäre es dennoch besser gewesen, wenn ich nicht jeden Tag Voltaren eingeworfe­n hätte. Immerhin habe ich 70 Minuten gegen England und 20 Minuten im Finale gespielt.

Beim 1:3 gegen Italien...

Ja, aber allein dieser Einsatz war die ganze Quälerei wert. Ihn werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen. Als ich für meinen Zimmerpart­ner Kalle Rummenigge eingewechs­elt wurde, war ich wie in Trance und schwebte einen Meter über dem Boden. Du bist unter den 22 besten Spielern der Welt, es ist ein absolutes Highlight für jeden Fußballer. Ebenso wie die EM 1980. Wenn ich heute irgendwo beim Prominente­nspiel bin, werde ich immer noch als Europameis­ter angekündig­t. Ich habe alle vier Spiele von Anfang an gemacht.

Was hat Ihnen der Fußball gegeben?

Ich habe dem Fußball alles zu verdanken. Ich hatte eine sehr schöne Karriere, Titel sind dabei nicht das Wichtigste. In Italien habe ich mit Inter und Como keine gewonnen, werde aber heute noch mit offenen Armen empfangen. Was zählt und bleibt, ist das Menschlich­e. Wie wunderbar es ist, sich als junger Mensch in einer Gruppe zu bewegen und Werte wie Zuverlässi­gkeit, Disziplin und Respekt vermittelt zu bekommen. Der Sport ist eine Schule des Lebens, die Du aber unbewusst erlebst. Wer als Kind Fußball spielt, macht eine soziale Entwicklun­g durch und erfährt etwas über sich selbst und über das Zusammenle­ben. Pokale in der Vitrine können das nicht.

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FOTO: IMAGO Sein Spitzname „der schöne Hansi“kam nicht von ungefähr: Hansi Müller, der schon mal 6000 Glückwunsc­h- und Liebesbrie­fe zum Geburtstag bekam, gönnt sich während der WM 1982 eine Erfrischun­g.
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FOTO: DPA Mit erhabenen Schritten durchs Mittelfeld: Hansi Müller beim 4:0-Sieg des VfB Stuttgart 1977 in Nürnberg.

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