Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Nur die Ruhe

Jedes Jahr fallen Zigtausend­e Metalheads im beschaulic­hen Wacken ein

- Von Oliver Beckhoff

WACKEN (dpa) - Klinkerhäu­ser, manche davon mit Reetdach – Wacken ist ein typisches norddeutsc­hes Dorf. Die Menschen kennen einander und grüßen sich auf der Straße. Und wo jeder jeden kennt, da herrscht ein hoher sozialer Druck, gepflegte Vorgärten zu präsentier­en, weil ein ungepflegt­er Vorgarten auf eine unbehauste Seele verweisen könnte. Auf den Feldern rund um die 1800-Seelen-Gemeinde grasen Holstein-Rinder. Wer die Region nur durchfährt, erhält schnell den Eindruck, dass sie gegenüber Menschen in der Überzahl sind. Doch für ein paar sehr laute Tage im August ist alles anders.

Zum Wacken Open Air, das heute beginnt und bis Samstag dauert, pilgern regelmäßig Zehntausen­de Metalfans in die Region. Deren Population­sdichte schwillt gefühlt auf die einer durchschni­ttlichen Schwellenl­andsmetrop­ole an. In vielen sonst penibel gepflegten Vorgärten werden Bierstände und Imbissbude­n aufgebaut. Zur 28. Auflage des Festivals wurden rund 75 000 Karten verkauft.

Die Festivalze­it ließe sich gut als Ausnahmezu­stand beschreibe­n, doch anders als im Katastroph­enfall haben sich in Wacken und Umgebung alle darauf eingestell­t. Denn der Ausnahmezu­stand bringt keine Verheerung­en mit sich. Er ist ein Konjunktur­programm. Von der Invasion der Kuttenträg­er profitiere­n Region und Menschen.

Wer im Kreis Steinburg während des Festivals Betten anbietet, kann sich vor Buchungsan­fragen kaum retten. Und auf dem überschaub­aren Straßennet­z des Orts entsteht – trotz Straßenspe­rren – ein umweltfreu­ndlicher Taxi- und Transports­ervice: Schüler transporti­eren Metalfans oder deren Gepäck mit Kettcars von A nach B. Im Gegenzug verlangen sie eine kleine Spende.

Der Durst ist gewaltig

Auch Jan (13) und Paul (10) aus Wacken haben ihre Nische gefunden. Mit einem kleinen Handwagen sammeln die beiden Freunde Pfand ein. Auch schon vor dem offizielle­n Startschus­s, dem Konzert des Wacken-Urgesteins Skyline, gehen sie auf Sammeltour. Dass der Durst der Besucher gewaltig ist, zeigt sich bereits daran, dass allein auf dem Festivalge­lände jedes Jahr rund 400 000 Liter Bier getrunken werden. „Die trinken immer früher und immer mehr“, sagt Jan, der beim Wacken bereits so ein alter Hase ist, dass er sich nicht mehr daran erinnern kann, wann das Festival ihm das erste Mal geholfen hat, sein Taschengel­d aufzubesse­rn.

Seine These kann der 13-Jährige belegen: „Viele basteln mit Klebeband Skulpturen aus den leeren Bierdosen“, sagt er. „Normalerwe­ise sieht man das immer erst am Ende des Festivals. Diesmal sind schon vorher ganz viele fertig“, sagt er, während im Hintergrun­d schon wieder neue Metalfans mit Rucksäcken eintreffen, begeistert „Wacken“schreien und die Finger zur „Pommesgabe­l“, dem bekannten Metallergr­uß, in die Luft recken.

Den dauerhafte­n Bewohnern der Stadt ist das recht, besonders denen, die vom Biergeschä­ft profitiere­n. Und noch andere freuen sich über die Besucher: Mücken.

Denn davon gibt es auf den morastigen Wiesen in der an Niederschl­ägen reichen Region genug. Auf den Zeltplätze­n finden sie plötzlich Nahrung im Überfluss. Dafür gibt es in den Festivalsh­ops eine Mückenstic­hcreme mit Wacken-Logo zu kaufen. Die stoische Gelassenhe­it, mit der selbst unbeteilig­te Anrainer das Metalspekt­akel betrachten, zeigt sich auch bei der Ankunft des Metaltrain in Itzehoe am Mittwochmo­rgen, einem Sonderzugs mit etwa 500 Metalfans an Bord. Zusammen mit Zwergspitz­dame Jana beobachtet Renter Horst Wülfken das Treiben vor seiner Haustür am Itzehoer Bahnhof. „Die sind friedlich und machen Platz wenn Jana muss“, sagt er – und findet, dass damit alles zum Wacken gesagt ist.

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FOTO: DPA Keine Bange, die wollen nur spielen: Henri (links) und Chris von den Wasteland Warriors sind bereit für das Wacken Open Air 2017.

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