Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Das Faustrecht auf dem Vormarsch

Nicht nur im Berliner Verkehr ist der Verteilung­skampf ausgebroch­en

- Von Ulrike von Leszczynsk­i und Stefan Kruse

BERLIN (dpa) - „Schlampe“und „Hure“gehören zu den gängigen Beleidigun­gen, die Frauen in der Hektik des Straßenver­kehrs in der Hauptstadt zu hören bekommen. Männern geht es dann um Lappalien wie die Pole Position an der Ampel. Mehr als 15 600 Berliner haben schon eine Petition gegen „Automachos“im Internet unterzeich­net. Sie ist ein kleiner Seismograf dafür, dass das Verkehrskl­ima immer rauer wird. Wie in vielen deutschen Innenstädt­en nehmen Verteilung­skämpfe um den Straßenrau­m zu. Mit dem ersten Mobilitäts­gesetz will der rot-rot-grüne Senat Berlin wieder in die Spur bringen. Das Experiment gefällt nicht allen – es wird Verlierer geben.

Dass sich auf Berlins Straßen etwas verändert hat, spürt Rechtsmedi­zinerin Saskia Etzold fast jeden Tag. In der Gewaltschu­tzambulanz der Charité dokumentie­rt sie Verletzung­en. „Autofahrer reißen die Autotür auf und greifen Passanten an. Oder sie schlagen Radfahrer an der Ampel durch das geöffnete Fenster.“Wenn sich Fußgänger bei Radfahrern beschwerte­n, bekämen manche als Antwort eine Faust ins Gesicht. „Das geht über Rücksichts­losigkeit weit hinaus, das ist pure Gewalt. Und die Hemmschwel­le sinkt.“

Die aufgeladen­e Stimmung registrier­en Verkehrsfo­rscher auch in bundesweit­en Umfragen. Die Folgen reichen über Aggressivi­tät bis zur völligen Missachtun­g des ersten Paragrafen der Straßenver­kehrsordnu­ng: gegenseiti­ge Rücksicht und Vorsicht. „Die Akzeptanz von Verkehrsre­geln ist nicht gerade auf dem Vormarsch, besonders wenig bei Radfahrern“, urteilt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallfors­chung der Versichere­r. „Die rote Ampel ist so ziemlich das einzige, wo ich noch sagen würde: Da halten sich zumindest Autofahrer dran.“Die Frage sei allerdings, wie lange noch.

Rühmliche Ausnahme: Freiburg

Die Lage ist für Brockmann oft hausgemach­t. Wenn Politik den Radverkehr laut propagiere, dann komme er auch. „Doch die meisten Kommunen sind darauf gar nicht vorbereite­t“, bilanziert der Forscher. Infrastruk­turplanung fürs Rad sei nicht selten irgendwo in den 70er-Jahren stehen geblieben, selbst in Hochburgen wie Münster. Welche deutsche Stadt hat ein modernes, attraktive­s, sicheres und gut durchdacht­es Radwegenet­z? Brockmann muss überlegen. „Freiburg“, sagt er schließlic­h.

Berlin will umsteuern – getrieben von einer wachsenden Radlobby, die ihre Rechte selbstbewu­sst bis hin zu Volksbegeh­ren einfordert. Die Pläne sind ehrgeizig. Mit dem neuen Mobilitäts­gesetz, das bis Ende des Jahres in Kraft treten soll, haben öffentlich­e Verkehrsmi­ttel und das Rad künftig Vorrang vor Autos. „Je mehr Menschen auf Bus, Bahn oder Fahrrad umsteigen können und wollen, desto schneller kommen auch die voran, die auf das Auto angewiesen bleiben“, argumentie­rt Berlins Umweltund Verkehrsse­natorin Regine Günther (parteilos/für Grüne. Die Autolobby grollt schon hörbar.

Beim Deutschen Verkehrssi­cherheitsr­at ist klar, dass Veränderun­gen nicht leise vonstatten gehen. „Es wird in den Kommunen Auseinande­rsetzungen um den Platz auf der Straße geben“, prognostiz­iert Hauptgesch­äftsführer Christian Kellner. „Konflikte treten bundesweit vor allem dann auf, wenn es Städte lange versäumt haben, eine gute Infrastruk­tur fürs Rad zu schaffen.“

Für Unfallfors­cher Brockmann ist es mit breiten Radwegen auf den

ANZEIGEN Straßen nicht getan. Autofahrer parkten sie zu oft zu und zwingen Radfahrer zu riskanten Ausweichma­növern – oder sie öffneten abrupt die Fahrertür. Das kostete in Berlin jüngst einen Radfahrer das Leben. 17 tote Radfahrer gab es in der Hauptstadt 2016 insgesamt – deutlich mehr als in den Vorjahren. Bundesweit kamen fast 400 Radfahrer ums Leben.

Attraktive Radwege auf verbreiter­ten Bürgerstei­gen hält Brockmann für sicherer. Auch dafür müssten die Autofahrer eine Spur abgeben. Dazu kommt die Technik. „Möglich sind in der Innenstadt eigentlich nur separate Ampeln für Radfahrer – ein eigenes System“, sagt der Forscher. Das sei allerdings mit Geld und sehr hohen Anforderun­gen an die Ampelschal­tungen verbunden. Denn grüne Wellen wollen Rad- und Autofahrer.

Nachdenken über das Auto

Städte müssten auch überlegen, wie sie mit ruhendem Verkehr umgehen, ergänzt Christian Kellner. „Fahrzeuge stehen zu lange nutzlos am Straßenran­d, zum Beispiel während der Arbeitszei­t.“Es sei gesellscha­ftlich gewollt und sinnvoll, dass immer mehr Menschen Rad fahren. „Das Auto wird Anteile verlieren. Das heißt, wir werden es intelligen­ter nutzen müssen“, folgert Kellner. Zum Beispiel durch Carsharing, Parkmöglic­hkeiten außerhalb der Stadt und einen besser vernetzten Nahverkehr. „So, dass auch Pendler eine Chance haben, zur Arbeit zu kommen – und dafür nicht um vier Uhr morgens aufstehen müssen.“

Die Berliner Opposition spricht von „Klientelpo­litik“auf Kosten der Autofahrer. Wirtschaft­sverbände warnen davor, den Lieferverk­ehr auszubrems­en. Der Senat will trotzdem, dass an allen Hauptstraß­en Berlins sichere Radwege entstehen, dazu Radschnell­wege für Pendler. Für Verkehrsfo­rscher ist das der richtige Weg – aber auch ein Risiko. „Wenn es der Senat nicht schafft, den Radverkehr in puncto Sicherheit und Komfort voranzubri­ngen, wäre das ein verheerend­es Signal. Berlin hat eine Modellfunk­tion“, sagt Siegfried Brockmann.

Wie das Umsteuern im Detail aussehen kann, bekam Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller vor Kurzem persönlich zu spüren. In der Nähe seines Wohnhauses wurden mehrere Parkplätze abgeschaff­t, um mehr Platz für Radfahrer zu schaffen. Müller protestier­te beim Bezirksamt gegen die „überzogene Maßnahme“. Genützt hat es nichts. Das Parkverbot blieb.

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FOTO: DPA Gefährdete Spezies: Radfahrer haben im Verteilung­skampf auf den Straßen meist die schwächste Position.

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