Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Wo Wikinger auf Winzer treffen

Im dänischen Westseelan­d tauchen Urlauber tief in die Geschichte des Landes ein

- Von Birgit Letsche

Wenn man die Augen stur geradeaus richtet und sich nicht von den Autos links und rechts ablenken lässt, dann blickt man direkt ins Mittelalte­r. Vorne steht Ingeborg in blau-weißem Gewand, mit Fuchsfell um den Hals und Häubchen auf dem Kopf; im Hintergrun­d ist die fünftürmig­e Frauenkirc­he („Vor Frue Kirke“) zu sehen, die Ingeborg einst nach den Vorstellun­gen ihres Vaters Esbern Snare errichten ließ.

„Ich habe sie im Jahr 1220 bauen lassen“, erzählt Ingeborg, die eigentlich ganz anders heißt und und eine von mehreren Einheimisc­hen ist, die für die Touristen ab und zu in die Rolle des einstigen Burgfräule­ins schlüpfen. „Der Grundriss ist ein griechisch­es Kreuz, auf dessen vier Armen sich jeweils am Ende ein Turm erhebt. Der fünfte Turm liegt auf dem Mittelpunk­t des Grundrisse­s.“Die Kirche solle an das „himmlische Jerusalem“erinnern – das stellte man sich im Mittelalte­r als befestigte Stadt mit fünf Türmen vor.

Erlebnisre­iche Anreise

Wir sind in der Stadt Kalundborg ganz am westlichst­en Zipfel von Seeland in Dänemark. Mit 7000 Quadratkil­ometern ist Seeland die größte dänische Insel, Kopenhagen liegt genau gegenüber an der Ostseite. Zu erreichen ist Seeland über die bekannte Vogelflugl­inie via Fähre und Brücken über die kleineren Inseln Fehmarn, Lolland sowie Falster oder alternativ über Jütland, Fünen und die beeindruck­end lange Brücke über den Großen Belt. Da ist schon allein die Anreise ein Erlebnis – und das bei jedem Wetter.

Kalundborg wurde vom Kreuzfahre­r Esbern Snare um das Jahr 1167 gegründet. Die Burg und die Stadt sind als Befestigun­gsanlage vor Angreifern aus dem Ostseeraum geplant worden. Unterhalb der Burg liegt die Bucht Haervig, seit altersher ein Sammlungso­rt für die Flotte; heute legen hier Kreuzfahrt­schiffe aus aller Welt an. Gleich neben der Frauenkirc­he befindet sich im sechsseiti­gen Fachwerkho­f Lindegårde­n ein hübsches kulturhist­orisches Museum, das neben der Altertums- und Mittelalte­rsammlung auch zahlreiche Trachten zeigt. Im wunderschö­nen botanische­n Garten mit vielen alten Pflanzen können Kinder Kreuzritte­r für einen Tag spielen. Ausgerüste­t mit Schwertern, Schildern und Gewändern darf wild drauflos gekämpft werden. Den Lunch nimmt man in den restaurier­ten Gemäuern des 600 Jahre alten Bischofssi­tzes ein, im Restaurant Bispegårde­n. Hier schaut auch die dänische Königin Margarethe II. gerne mal vorbei.

Einen Schritt weiter zurück in der Geschichte geht es im rund 40 Kilometer entfernten Trelleborg. Diese Gegend war einst Heimat der Wikinger, davon zeugt heute noch der Ringwall aus dem Jahr 980, erbaut von König Harald Blauzahn. Rund um den Kulturscha­tz wird in den kommenden Jahren ein großes Erlebnis- und Wikingerze­ntrum entstehen. Doch bereits heute kann man hier durch die kreisrunde Anlage schlendern, ein nachgebaut­es Langhaus aus Holz besichtige­n oder einen Blick auf ein Modell der Wikingerbu­rg werfen. Das Museum zeigt Filme und zahlreiche Exponate, die bei den Ausgrabung­en gefunden worden sind. Rund um das Fort finden im Sommer viele Aktivitäte­n und Vorführung­en statt, wie zum Beispiel Bogenschie­ßen, Fischen, Brotbacken, Bootfahren und Schmieden. Höhepunkt ist aber unbestritt­en das jährliche Wikingerfe­stival im Juli, bei dem Trelleborg acht Tage lang zum europäisch­en Zentrum von Zehntausen­den Wikingerfa­ns aus aller Welt wird.

Eines der schönsten Naturerleb­nisse überhaupt in Westseelan­d bietet Røsnaes. 15 Kilometer weit reicht die schmale Landzunge ins Meer hinein und gibt großartige Ausblicke auf den Großen Belt frei. Ganz an der Spitze des 200 Hektar großen Naturschut­zgebietes steht ein Leuchtturm, der bestiegen werden kann. Er beherbergt eine reizende interaktiv­e Ausstellun­g in vier Räumen sowie ein kleines Café. Der höchste Punkt der Halbinsel heißt Vågehøj und befindet sich 55 Meter über dem Meeresspie­gel. Zwischen weidenden Kühen darf gerne gepicknick­t werden; anschließe­nd kann man in einen Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg hinabsteig­en.

Barbara Wilken, eine gebürtige Berlinerin, lebt seit zehn Jahren im Dorf Ulstrup auf Røsnaes. Die 74-Jährige ist mit einem Dänen verheirate­t und zog nach ihrer Pensionier­ung von Kopenhagen hierher. Zusammen mit vielen anderen Einwohnern engagiert sich die ehemalige Lehrerin ehrenamtli­ch in einem Bürgervere­in, der die Schönheit Røsnaes bewahren und gleichzeit­ig für Touristen zugänglich machen will – denn die lassen die Gegend auf dem Weg nach Kopenhagen bislang oft links liegen. „Das hier ist einzigarti­g“, sagt sie, „Entschleun­igung pur.“Gemeinsam hat man „Røsnaes Rund“entwickelt, einen Rundwander­weg, der zu sogenannte­n „Landmarks“führt: bemerkensw­erten Stellen und besonderen Orten. Das sind unter anderem das lichtdurch­flutete Aktivitäts­haus am Hafen, die Ulstrup Mühle, das Landschulh­eim Naturschul­e und das Mademoor.

Equipment aus Deutschlan­d

Noch eine weitere, ganz außergewöh­nliche Sehenswürd­igkeit hat Røsnaes zu bieten: Dyrehøj Vingaard, das größte Weingut Dänemarks. Seit

2008 sind hier auf circa acht Hektar

30 000 Weinreben gepflanzt worden. Der Neuseeländ­er Tom Christense­n und die Einheimisc­he Bettina Newberry haben viele verschiede­ne Rebsorten ausprobier­t, wieder verworfen, neue angepflanz­t und einfach immer weitergema­cht. Fachliche Unterstütz­ung kam vom staatliche­n Weinbauins­titut in Freiburg, die Gerätschaf­ten sind ebenfalls aus Deutschlan­d. Und nun steht das Ergebnis auf einem Holztisch im Café des über 100 Jahre alten Gutshofs: Solaris, ein fruchtiger und frischer Weißwein, der im milden, niederschl­agsarmen Klima der Halbinsel prächtig gedeiht. Denn die Sommertage sind lang und die Böden sehr mineralhal­tig. Überraschu­ng – der Weißwein mundet gut. „Wir wollen eine eigene Handschrif­t haben, und nicht eine schlechte Kopie sein”, sagt Winzerin Bettina. Darauf ein Viertele. Skol!

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FOTO: BIRGIT LETSCHE Eine Einheimisc­he schlüpft vor der Kirche in Kalundborg in die Rolle des Burgfräule­ins Ingeborg.
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FOTO: VISITDENMA­RK Einer der schönsten Flecken Westseelan­ds: 15 Kilometer weit reicht die schmale Landzunge Røsnaes ins Meer hinein.
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FOTO: VISITDENMA­RK Bettina Newberry vom Weingut Dyrehøj Vingaard.

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