Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
„Wir machen das für die jungen Leute“
Seit 25 Jahren verlegt er „Stolpersteine“: Bildhauer Gunter Demnig wir 70 Jahre alt
KÖLN (KNA) - Seit 25 Jahren (Dezember 1992) erinnern sogenannte Stolpersteine in den Straßen Europas an die Opfer der Nationalsozialisten. Auf den zehn mal zehn Zentimeter kleinen Messingplatten vor den letzten frei gewählten Wohnungen der betreffenden Personen sind jeweils Name, Lebensdaten und – soweit bekannt – die Umstände von deren Tod eingraviert. Der Initiator und Leiter des Projekts, der Bildhauer Gunter Demnig, wird am Freitag 70 Jahre alt. Im Interview mit Sabine Kleyboldt berichtet er über das inzwischen weltweit größte dezentrale Mahnmal.
Herr Demnig, seit 25 Jahren verlegen Sie „Stolpersteine“. Wie kam es überhaupt dazu?
1990 habe ich in Köln die „Spur der Erinnerungen“gelegt zum Gedenken an die Deportation von tausend Roma und Sinti im Mai 1940 durch die Nazis. Da hat eine ältere Dame in der Kölner Südstadt zu mir gesagt: „Es ist ja schön, was Sie da machen, aber hier haben niemals Zigeuner gelebt.“Mir ist das Kinn runtergefallen, als sie das gesagt hat. Das war der Auslöser. Da war mir klar: Ich muss weitermachen.
Sie machen das aber nicht allein, sondern die Stolpersteine sind ein „Kunstdenkmal als Bürgerbewegung“, wie eine Ausstellung dazu in Köln betitelt ist.
Ja, ich hatte als Künstler die Idee, aber in die Tat umsetzen müssen sie die Bürger in den Orten. Das betrifft auch die Finanzierung durch Patenschaften in Höhe von 120 Euro pro Stein. Es sind oft Heimatvereine, Geschichtsvereine, Schülergruppen oder Privatpersonen, die hier anpacken. Aber ich behalte natürlich die Koordination.
Bis jetzt haben Sie in 21 Ländern 63 000 Stolpersteine verlegt. Wie erklären Sie sich den lang anhaltenden Erfolg Ihres Projektes?
Es ist inzwischen die Enkelgeneration, zum Teil sogar die Urenkelgeneration, die darauf aufmerksam wird. Denn oft ist ja in den Familien gar nicht über das Thema Holocaust, Nazizeit gesprochen worden. Die Stolpersteine werden durch die Medien bekannt. Und dann kommen immer mehr Anfragen aus der ganzen Welt. Zum Beispiel hatte ich die Situation, dass sich Leute bei Familientreffen aus Tasmanien, Südamerika, USA oder Israel bei mir gemeldet haben, um einen Stolperstein für einen Verwandten verlegen zu lassen. Auch wenn es immer weniger Zeitzeugen gibt: Das Projekt wird nicht kleiner, sondern es wächst noch weiter.
Es gibt aber auch Gegenwind: In München zum Beispiel ist das Verlegen von Stolpersteinen auf öffentlichem Grund schwierig bis unmöglich…
Unsäglich finde ich die Kritik daran, dass die Steine in der Erde liegen, wo angeblich das Andenken der Opfer mit Füßen getreten wird. Dabei habe ich mich damals bewusst für den Gehweg und gegen die Hauswand entschieden. Denn 80 bis 90 Prozent der Hausbesitzer würden eine Gedenktafel an ihrem Haus verweigern. Außerdem: Nehmen Sie den Petersdom, wo mitten in der Kirche viele Grabplatten liegen, über die tagtäglich Abertausende Besucher laufen. Auch der Rabbi von Köln sagte mir, meine Stolpersteine seien kein Problem, denn es sind ja keine Grabsteine. Und er hat mir auf meinen Arbeitsweg ein Wort aus dem Talmud mitgegeben: Ein Mensch, dessen Name vergessen ist, ist auch vergessen. Insofern sehe ich mich auf der richtigen Seite.
Was sagen Sie zu dem Kritikpunkt, dass Nazis mit ihren Springerstiefeln auf den Stolpersteinen herumtrampeln könnten?
Dazu kann ich sagen, je mehr solche Nazis drauf rumtrampeln, desto blanker werden die Steine. Ein Schild an der Wand wäre wohl kaum sicher vor denen, es sei denn, man bringt es in 2,50 Meter Höhe an. Und: Wer eine Inschrift auf einem Stolperstein lesen will, muss sich automatisch vor den Opfern verbeugen.
Was ist an Stolpersteinen besser als an den „klassischen“Gedenkorten?
Anders als an zentralen Gedenkstätten, wo einmal im Jahr Kränze hingelegt werden, ist es wirklich ein Projekt in der eigenen Nachbarschaft. Das empfinden gerade die jungen Leute. Die sehen dann die Lebensdaten auf den Steinen und rechnen nach: „Mensch, der war ja genauso alt wie ich, als der nach Auschwitz gebracht worden ist!“Oder: „Die Frau, die damals nach Theresienstadt kam, war so alt wie meine Großmutter.“Ich habe gemerkt, dass die jungen Leute bei diesem konkreten Projekt ganz anders anfangen zu denken.
Was bedeutet Ihnen diese Zielgruppe, die doch angeblich so unpolitisch ist?
Das erlebe ich anders. Ich muss sagen, diese jungen Leute sind für mich der Hauptanlass geworden, für die machen wir das, dass die sich mit der Frage auseinandersetzen, wie konnte so etwas im Land der Dichter und Denker überhaupt passieren. Die wollen es wirklich wissen. Da merke ich, es kommt was zurück, das ist eine wirklich tolle Erfahrung.
Ein Beispiel, bitte.
Nach einem Vortrag in einem Gymnasium in Leverkusen kam eine Arbeitsgruppe, sechs junge Frauen, ein junger Mann, zu mir ins Atelier. Ich habe ihnen erklärt, was alles für die Verlegung von Stolpersteinen gemacht werden muss: die Lebensdaten der Betroffenen recherchieren, die Bürgermeisterin ansprechen, es mit dem Tiefbauamt abklären etc. Das haben sie alles durchgezogen, irgendwann angerufen und nach einem Termin gefragt. Dann haben wir gemeinsam die Steine verlegt. Das ist natürlich das Schönste.
Wie werden die einzelnen Stolpersteine erstellt?
Wir machen einen Vorentwurf nach Vorlagen und Korrekturen aus dem Bundesarchiv, dann gucke ich nochmal drüber. Trotzdem passieren auch Fehler – manchmal sogar schöne Irrtümer. Zum Beispiel gab es bei einer Frau die Erkenntnis: Die ist nicht in Theresienstadt ermordet worden, die ist befreit worden. Aber dieser Fall war wohl wirklich ein Unikat.
Ihr Atelier befindet sich in Frechen bei Köln…
Noch! Ich bin dabei, mein Atelier nach Alsfeld in Hessen zu verlegen. Das hat vor allem praktische Gründe. In meiner alten Wohnung gab es ein Schimmelproblem, und meine Arbeiten lagerten in einer Garage. Am neuen Standort kann ich ein kleines Museum einrichten. Und: Ich bin dann fast mitten in Deutschland, was für meine vielen Reisen sehr günstig ist. Der Sitz meiner Stiftung bleibt aber in Köln.
Sie werden demnächst 70. Wie lange wollen Sie noch Stolpersteine verlegen?
Im November steht mir eine Operation bevor. Ich habe mein Handgelenk etwas überfordert, nichts sehr Tragisches. Die Orthopädin sagte zu mir, „ach so, Sie sind Bildhauer, Sie machen die Stolpersteine? Naja, dann ist es ja ganz normal“. Wie lange ich die rechte Hand schonen muss, hat sie nicht gesagt. Dann mache ich eben mit Links weiter.