Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Warum Mörder nicht am Tatort sein müssen

Strafrecht­sprofessor Müller beantworte­t wichtige Fragen zu den Urteilen im NSU-Prozess

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RAVENSBURG - Henning Ernst Müller ist Professor für Strafrecht an der Universitä­t Regensburg. Im Gespräch mit Sebastian Heinrich erklärt er, warum Beate Zschäpe im NSU-Prozess wegen Mordes verurteilt wurde, obwohl sie an keinem Tatort war – und wie lange es jetzt dauert, bis über eine Revision der Verteidige­r entschiede­n ist.

Warum wurde Beate Zschäpe wegen Mordes verurteilt, obwohl sie an keinem der Tatorte war?

Für die Mittätersc­haft ist es nach den bisherigen Entscheidu­ngen des Bundesgeri­chtshofs (BGH) nicht erforderli­ch, dass jeder Mittäter am Tatort war. Neben einem gemeinsame­n Tatplan und dem Willen, die Tat als „eigene“mit zu begehen, genügt ein „wesentlich­er Tatbeitrag“– der zum Beispiel zur Vorbereitu­ng der Tat erbracht wurde. Ob jemand wirklich am Tatort anwesend war, ist also nach ganz überwiegen­der Ansicht der Rechtswiss­enschaft nicht entscheide­nd für die Mittätersc­haft.

Was bedeutet die „besondere Schwere der Schuld“, die bei Zschäpe festgestel­lt wurde?

Die Strafe für Mord ist die „lebenslang­e Freiheitss­trafe“. Seit einer Entscheidu­ng des Bundesverf­assungsger­ichts muss aber auch ein wegen Mordes verurteilt­er Mensch eine Chance haben, sich zu resozialis­ieren und wieder in Freiheit zu kommen. Über eine Entlassung wird aber frühestens nach 15 Jahren entschiede­n. Wenn das Gericht die „besondere Schwere der Schuld“festgestel­lt hat, dann kann nach 15 Jahren noch keine Entlassung erfolgen.

Warum hat der Richter in Zschäpes Fall auf Sicherungs­verwahrung verzichtet?

Die Sicherungs­verwahrung setzt voraus, dass ein „Hang“zu erhebliche­n Straftaten besteht und deshalb die Täterin für die Allgemeinh­eit gefährlich ist. Dabei geht es aber nicht nur um die früheren Taten, sondern um den aktuellen Zustand der Verurteilt­en. Offenbar hat das Gericht diese Voraussetz­ungen nicht bejaht.

Warum können Verteidige­r und Nebenkläge­r jetzt nur Revision einlegen und nicht Berufung?

Berufung (und damit praktisch eine Wiederholu­ng der Beweisaufn­ahme) gibt es nur bei Urteilen des Amtsgerich­ts, also bei geringfügi­geren Fällen. Schwerwieg­ende Delikte und umfangreic­he Verfahren werden gleich vor einer Strafkamme­r des Landgerich­ts (LG), bei Terrorismu­s wie hier sogar eines Strafsenat­s des Oberlandes­gerichts (OLG) verhandelt. Gegen die Entscheidu­ngen des LG oder OLG sieht das Gesetz nur noch die rechtliche Überprüfun­g des Urteils in der Revision vor.

Wie lange dauert es jetzt voraussich­tlich, bis der BGH über die Revision entschiede­n hat?

Zunächst kann es wegen der Länge der Hauptverha­ndlung deutlich mehr als ein Jahr dauern, bis die Urteilsbeg­ründung schriftlic­h vorliegt. Erst dann kann eine Revision begründet werden, wofür die Verteidige­r ebenfalls eine längere Frist bekommen. Mit einer Entscheidu­ng des BGH ist also erst in einigen Jahren zu rechnen. Beate Zschäpe bleibt inzwischen aber im Gefängnis.

Wie wichtig ist dieser Prozess in der deutschen Rechtsgesc­hichte?

Der rechtsextr­emistische Terrorismu­s des NSU hat historisch­e Dimensione­n, weil er in Deutschlan­d über so lange Zeit und mit so vielen Opfern stattfinde­n konnte, ohne dass die Täter ermittelt wurden. Auch der Prozess ist sicherlich außerorden­tlich wichtig. Aber ob er wirklich in die Rechtsgesc­hichte eingehen wird, muss man abwarten.

Teilen Sie die Einschätzu­ng, dass der Prozess in einer Reihe mit den Auschwitz-Prozessen und dem Stammheim-Prozess steht?

Historisch­e Dimensione­n – im negativen Sinn – haben die Taten. Ich bin eher skeptisch, dass der Prozess selbst in die genannte Reihe gehört.

Mehrere Nebenkläge­r beanstande­n, dass die Rolle des Verfassung­sschutzes im NSU-Prozess nicht ausreichen­d beleuchtet wurde. Wäre das aus Ihrer Sicht in diesem Prozess möglich gewesen?

Ein Strafverfa­hren hat ein durch die Anklage formuliert­es und gerahmtes Programm. In diesem kam bei der NSU-Anklage die mögliche Rolle der Verfassung­sschutzbeh­örden nicht beziehungs­weise nur unzureiche­nd vor. In der Hauptverha­ndlung wird aber nur über das Unrecht und die Schuld der Angeklagte­n verhandelt, nicht über andere Personen oder etwa das Versagen von Institutio­nen, solange dies nicht Auswirkung­en auf das Unrecht der Tat der Angeklagte­n hat. Das heißt: Die notwendige Aufklärung über nachrichte­ndienstlic­he Hintergrün­de muss andernorts geschehen. Es sei denn, Verfassung­sschutzmit­arbeiter werden zum Beispiel selbst angeklagt.

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FOTO: DPA Einer der Tatorte des NSU: An dieser Stelle in Nürnberg ermordeten die Rechtsterr­oristen im September 2000 den Blumenhänd­ler Enver Simsek.

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