Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Mahle sucht den neuen Weg
Der 100. Geburtstag des Stuttgarter Automobilzulieferers ist kein Anlass für Feierstimmung
STUTTGART (dpa) - Zu seinem 100. Geburtstag wollte der Stuttgarter Autozulieferer Mahle ursprünglich groß feiern. Einen offiziellen Festakt sollte es geben, dazu Aktionen für die Beschäftigen, sogar Familientage. Und nun: alles abgesagt. Das Coronavirus lasse solche Veranstaltungen derzeit nicht zu, heißt es offiziell von Unternehmensseite. Allerdings hätten solche Partys wohl auch ohne Pandemie kaum zum Gefühlszustand im Traditionskonzern gepasst. Die Stimmung in der Belegschaft sei schlecht, das Vertrauen in die Führung um Geschäftsführer Jörg Stratmann auf einem Tiefpunkt, hört man aus der Firma, die mit der Transformation in der Autoindustrie ebenso sehr zu kämpfen hat wie mit den Auswirkungen der Pandemie.
Pünktlich zum 100-jährigen Bestehen am 1. Dezember haben sich beim Stiftungsunternehmen Baustellen en masse angehäuft. Lange verdiente Mahle vor allem mit Filtern, Kolben und Pumpen für den Verbrennungsmotor sein Geld, doch mit dem Umstieg vieler Autobauer auf die E-Mobilität ist das kein tragfähiges Geschäftsfeld für die Zukunft mehr. Arbeitnehmervertreter werfen Mahle offen vor, sich zu spät und zu unentschlossen auf die neuen Erfordernisse umgestellt zu haben – und das auch jetzt noch allenfalls halbherzig zu tun.
Bestandsaufnahmen wie diese sind keine Ausnahme, wenn man sich die bedrückende Lage vieler Zulieferer anschaut. Viele hoch spezialisierte Betriebe seien vom Geschäft mit Verbrennungsmotoren fast gänzlich abhängig gewesen, sagt Branchenexperte Ferdinand Dudenhöffer. Weil solche Komponenten schon in wenigen Jahren keine Rolle mehr spielen könnten, müsse sich das Geschäftsmodell dieser Firmen nun radikal ändern. Das gelte nicht nur für Mahle, sondern auch für Mitbewerber wie Bosch, ZF, Conti, Eberspächer, Schaeffler oder ElringKlinger. Unklar sei, wer diesen Umbruch meistere. „So wie beim Übergang von den Dampfloks zu den Elektroloks keiner der Dampflokhersteller überlebt hat, könnte es einigen Zulieferern gehen.“
Die trübe Lage schlägt sich bei Mahle auch aufs Betriebsklima nieder. Martin Röll von der IG Metall Stuttgart sagt: „In der Belegschaft gibt es erhebliche Zweifel, ob die Firmenleitung wirklich den Willen hat, den Laden zukunftsfähig aufzustellen. Nach meinem Eindruck ist das Vertrauen in die Führungsmannschaft deutlich geringer als bei manch anderen großen Firmen, auch wenn es überall Ärger und Kritik gibt.“
Obendrein beklagen Beschäftigte erheblichen Nachholbedarf beim Management interner Prozesse. Gesamtbetriebsratschef Jürgen Kalmbach sagt, Mahle sei jahrelang vor allem durch Zukäufe gewachsen, dennoch habe die Firma die Arbeitsabläufe nicht vereinheitlicht oder verschlankt. Die Workflows seien schlecht. „Man hat lange verpennt, in der Strukturierung des Betriebs seine Hausaufgaben zu machen. Das fällt der Firma jetzt mächtig auf die Füße.“
Intern steht vor allem Geschäftsführer Stratmann in der Kritik. Dem 51-Jährigen wird aus Mitarbeiterkreisen vorgeworfen, er könne die Beschäftigten nicht mitnehmen, habe keine Visionen und kenne sich technologisch schlecht aus. Kalmbach beklagt eine mangelnde Präsenz der Chefriege. Seit dem Corona-Ausbruch seien „unsere Häuptlinge abgetaucht“, vor allem vom „Kapitän auf der Brücke“sehe man wenig.
Dazu kommt der ungebremste Stellenabbau. Bereits in den vergangenen Jahren wurden weltweit Tausende Stellen gestrichen – teils nach dem Gießkannenprinzip quer durch verschiedenste Abteilungen, wie Insider berichten. Nun sollen weitere 7600 der übrigen 77 000 Jobs wegfallen, davon 2000 in Deutschland.
Das Unternehmen hat eine Anfrage für ein Interview abgelehnt. Den Vorwurf, Stratmann sei wenig präsent, weist der Konzern ebenso zurück wie die Kritik, man habe zu spät auf die Transformation in der Branche reagiert. Betriebsrat Kalmbach hält dagegen: Nach dem Abschied von Ex-Boss Wolf-Henning Scheider zum Mitbewerber ZF Anfang 2018 habe Mahle die Entwicklung neuer Technologien eher wieder schleifen lassen – und den Ernst der Lage erst vor Kurzem wirklich erkannt.
Ein Blick in die Zahlen verdeutlicht die vertrackte Lage. Im vergangenen Jahr machte Mahle einen Verlust von 212 Millionen Euro, neuere Zahlen wurden nicht veröffentlicht. Der Konzern bezeichnet sich als gut aufgestellt, erzielt nach eigenen Angaben rund 60 Prozent des Umsatzes mit Produkten abseits von Verbrennungsmotoren. Ob das reicht, sich im Wettstreit der Zulieferer letztlich durchzusetzen, ist gegenwärtig aber schwer abzusehen.