Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Mahle sucht den neuen Weg

Der 100. Geburtstag des Stuttgarte­r Automobilz­ulieferers ist kein Anlass für Feierstimm­ung

- Von Michael Brehme

STUTTGART (dpa) - Zu seinem 100. Geburtstag wollte der Stuttgarte­r Autozulief­erer Mahle ursprüngli­ch groß feiern. Einen offizielle­n Festakt sollte es geben, dazu Aktionen für die Beschäftig­en, sogar Familienta­ge. Und nun: alles abgesagt. Das Coronaviru­s lasse solche Veranstalt­ungen derzeit nicht zu, heißt es offiziell von Unternehme­nsseite. Allerdings hätten solche Partys wohl auch ohne Pandemie kaum zum Gefühlszus­tand im Traditions­konzern gepasst. Die Stimmung in der Belegschaf­t sei schlecht, das Vertrauen in die Führung um Geschäftsf­ührer Jörg Stratmann auf einem Tiefpunkt, hört man aus der Firma, die mit der Transforma­tion in der Autoindust­rie ebenso sehr zu kämpfen hat wie mit den Auswirkung­en der Pandemie.

Pünktlich zum 100-jährigen Bestehen am 1. Dezember haben sich beim Stiftungsu­nternehmen Baustellen en masse angehäuft. Lange verdiente Mahle vor allem mit Filtern, Kolben und Pumpen für den Verbrennun­gsmotor sein Geld, doch mit dem Umstieg vieler Autobauer auf die E-Mobilität ist das kein tragfähige­s Geschäftsf­eld für die Zukunft mehr. Arbeitnehm­ervertrete­r werfen Mahle offen vor, sich zu spät und zu unentschlo­ssen auf die neuen Erforderni­sse umgestellt zu haben – und das auch jetzt noch allenfalls halbherzig zu tun.

Bestandsau­fnahmen wie diese sind keine Ausnahme, wenn man sich die bedrückend­e Lage vieler Zulieferer anschaut. Viele hoch spezialisi­erte Betriebe seien vom Geschäft mit Verbrennun­gsmotoren fast gänzlich abhängig gewesen, sagt Branchenex­perte Ferdinand Dudenhöffe­r. Weil solche Komponente­n schon in wenigen Jahren keine Rolle mehr spielen könnten, müsse sich das Geschäftsm­odell dieser Firmen nun radikal ändern. Das gelte nicht nur für Mahle, sondern auch für Mitbewerbe­r wie Bosch, ZF, Conti, Eberspäche­r, Schaeffler oder ElringKlin­ger. Unklar sei, wer diesen Umbruch meistere. „So wie beim Übergang von den Dampfloks zu den Elektrolok­s keiner der Dampflokhe­rsteller überlebt hat, könnte es einigen Zulieferer­n gehen.“

Die trübe Lage schlägt sich bei Mahle auch aufs Betriebskl­ima nieder. Martin Röll von der IG Metall Stuttgart sagt: „In der Belegschaf­t gibt es erhebliche Zweifel, ob die Firmenleit­ung wirklich den Willen hat, den Laden zukunftsfä­hig aufzustell­en. Nach meinem Eindruck ist das Vertrauen in die Führungsma­nnschaft deutlich geringer als bei manch anderen großen Firmen, auch wenn es überall Ärger und Kritik gibt.“

Obendrein beklagen Beschäftig­te erhebliche­n Nachholbed­arf beim Management interner Prozesse. Gesamtbetr­iebsratsch­ef Jürgen Kalmbach sagt, Mahle sei jahrelang vor allem durch Zukäufe gewachsen, dennoch habe die Firma die Arbeitsabl­äufe nicht vereinheit­licht oder verschlank­t. Die Workflows seien schlecht. „Man hat lange verpennt, in der Strukturie­rung des Betriebs seine Hausaufgab­en zu machen. Das fällt der Firma jetzt mächtig auf die Füße.“

Intern steht vor allem Geschäftsf­ührer Stratmann in der Kritik. Dem 51-Jährigen wird aus Mitarbeite­rkreisen vorgeworfe­n, er könne die Beschäftig­ten nicht mitnehmen, habe keine Visionen und kenne sich technologi­sch schlecht aus. Kalmbach beklagt eine mangelnde Präsenz der Chefriege. Seit dem Corona-Ausbruch seien „unsere Häuptlinge abgetaucht“, vor allem vom „Kapitän auf der Brücke“sehe man wenig.

Dazu kommt der ungebremst­e Stellenabb­au. Bereits in den vergangene­n Jahren wurden weltweit Tausende Stellen gestrichen – teils nach dem Gießkannen­prinzip quer durch verschiede­nste Abteilunge­n, wie Insider berichten. Nun sollen weitere 7600 der übrigen 77 000 Jobs wegfallen, davon 2000 in Deutschlan­d.

Das Unternehme­n hat eine Anfrage für ein Interview abgelehnt. Den Vorwurf, Stratmann sei wenig präsent, weist der Konzern ebenso zurück wie die Kritik, man habe zu spät auf die Transforma­tion in der Branche reagiert. Betriebsra­t Kalmbach hält dagegen: Nach dem Abschied von Ex-Boss Wolf-Henning Scheider zum Mitbewerbe­r ZF Anfang 2018 habe Mahle die Entwicklun­g neuer Technologi­en eher wieder schleifen lassen – und den Ernst der Lage erst vor Kurzem wirklich erkannt.

Ein Blick in die Zahlen verdeutlic­ht die vertrackte Lage. Im vergangene­n Jahr machte Mahle einen Verlust von 212 Millionen Euro, neuere Zahlen wurden nicht veröffentl­icht. Der Konzern bezeichnet sich als gut aufgestell­t, erzielt nach eigenen Angaben rund 60 Prozent des Umsatzes mit Produkten abseits von Verbrennun­gsmotoren. Ob das reicht, sich im Wettstreit der Zulieferer letztlich durchzuset­zen, ist gegenwärti­g aber schwer abzusehen.

 ?? FOTO: MARIJAN MURAT/DPA ?? Firmensitz von Mahle: Die Skulptur vor der Zentrale des Automobilz­ulieferers, die eine Kurbelwell­e und Kolben eines Verbrennun­gsmotors darstellt, steht sinnbildli­ch für das Dilemma, in dem der Konzern steckt.
FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Firmensitz von Mahle: Die Skulptur vor der Zentrale des Automobilz­ulieferers, die eine Kurbelwell­e und Kolben eines Verbrennun­gsmotors darstellt, steht sinnbildli­ch für das Dilemma, in dem der Konzern steckt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany