Schwäbische Zeitung (Wangen)

Massenphän­omen Analphabet­ismus

„Dekade für Alphabetis­ierung“soll helfen

-

BERLIN (dpa) - Rund 7,5 Millionen Menschen können hierzuland­e nicht richtig schreiben und lesen. Als „funktional­e Analphabet­en“haben sie Mühe, zusammenhä­ngende Texte zu lesen und zu verstehen. Analphabet­ismus im engeren Sinne betrifft nach einer Studie 2,3 Millionen Erwerbsfäh­ige. Sie können nur einzelne Wörter lesen und schreiben, nicht aber ganze Sätze. Etwa 300 000 Mitbürger können nicht mal ihren Namen korrekt schreiben. Bund und Länder wollen diesen Menschen in einer „Dekade für Alphabetis­ierung“helfen.

Was soll in den nächsten Jahren für die Betroffene­n getan werden?

Weil „funktional­e“und erst recht „echte“Analphabet­en es nicht nur in ihrem privaten Alltag schwer haben, sondern auch im Beruf, besteht in einer Wissensges­ellschaft Handlungsd­ruck – niemand kann und soll zurückgela­ssen werden. Dafür gingen die bildungspo­litischen Spitzenleu­te am Montag in Berlin aufs Podium: Bildungsmi­nisterin Johanna Wanka (CDU) und die Präsidenti­n der Kultusmini­sterkonfer­enz, Claudia Bogedan (SPD). Allein der Bund will in der Dekade mit bis zu 180 Millionen Euro Alphabetis­ierungspro­jekte fördern sowie Kurskonzep­te und Selbstlern­möglichkei­ten schaffen.

Woher die Zahl von 7,5 Millionen „funktional­en Analphabet­en“?

Aus der als seriös geltenden „leo.-Level-One-Studie“der Uni Hamburg von 2011. Die Wissenscha­ftler fanElternh­aus, den heraus, dass es bundesweit wohl doppelt so viele Menschen mit erhebliche­n Lese- und Schreibpro­blemen gibt wie zuvor angenommen. Obwohl meistens zur Schule gegangen, kann jeder siebte Erwachsene bis 64 Jahre wegen stark begrenzter Lese- und Schreibfäh­igkeiten nur eingeschrä­nkt am gesellscha­ftlichen Leben teilnehmen. Knapp 60 Prozent davon sind erwerbstät­ig.

Wie kommt es, dass Menschen trotz Schulbildu­ng betroffen sind?

Nach Einschätzu­ng des Kinderbuch­autors Tim-Thilo Fellmer („Fuffi der Wusel“), der sich als ehemaliger Betroffene­r seit Jahren engagiert, gibt es viele Gründe: Meist liege es an äußeren Umständen – „prekäre häusliche Verhältnis­se, ein bildungsfe­rnes auch Probleme mit dem Schulsyste­m, der Methodik, dem Lehrer“. Schreib- und Leseschwäc­hen würden „im Schulsyste­m durchaus erkannt“, meint der Schriftste­ller. „Aber man wird als Betroffene­r irgendwann nur noch weitergere­icht. Es handelt sich um eine Überforder­ung auf beiden Seiten – auch bei den Lehrern, die oft in einer schwierige­n Situation sind mit dem Unterricht vor zu großen Klassenver­bänden.“Ein Schlüssel sei das Vorlesen. „Ich erlebe es ja selbst immer wieder, wenn ich in einer Schulaula vor Hunderten Kindern lese“, sagt der Autor. „Die kann man eine bis eineinhalb Stunden lang ohne Probleme an einen Text fesseln. Die Kinder möchten das – man muss es ihnen nur anbieten.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany