Schwäbische Zeitung (Wangen)

May besiegelt historisch­en Schritt

Großbritan­nien übergibt Austrittsg­esuch in Brüssel – EU kündigt harte Verhandlun­gen an

- Von Sebastian Borger

LONDON/BRÜSSEL (dpa/AFP) Mittwoch, 29. März 2017 – ein historisch­er Tag für Europa: Als erstes Mitglied in der Geschichte der Europäisch­en Union (EU)hat Großbritan­nien offiziell den Austritt aus der Gemeinscha­ft erklärt. Neun Monate nach dem Brexit-Votum übergab der britische Botschafte­r Tim Barrow in Brüssel das sechsseiti­ge Austrittsg­esuch persönlich an EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk. Nur Minuten später betonte Premiermin­isterin Theresa May vor dem Parlament in London, ihr Land wolle auch künftig eine „besondere Partnersch­aft“mit der EU. Allerdings sagte sie auch: „Das ist ein historisch­er Moment, von dem es kein Zurück geben kann.“

Mit der Übergabe der Austrittse­rklärung beginnen demnächst zweijährig­e Trennungsv­erhandlung­en, in denen die Verflechtu­ngen zwischen Großbritan­nien und der EU gelöst werden müssen. Mehr als 20 000 Gesetze und Regeln sind betroffen. Im März 2019 endet voraussich­tlich die EU-Mitgliedsc­haft des Landes.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel bedauerte den Antrag Großbritan­niens. „Wir verlieren einen starken und wichtigen Mitgliedst­aat“, sagte sie. Die CDU-Politikeri­n räumte ein, dass der angestrebt­e EU-Austritt Großbritan­niens für viele Menschen in Europa „mit ganz konkreten Sorgen über die eigene Zukunft verbunden“sei. Sie wünsche sich, „dass Großbritan­nien und die Europäisch­e Union enge Partner bleiben“.

May beschrieb ihre Ziele in einem offizielle­n Brief und in der Parlaments­rede. „Die Entscheidu­ng vom 23. Juni vergangene­n Jahres bedeutete keine Abkehr von den Werten, die wir als Europäer teilen, noch bedeutete sie den Versuch, der Europäisch­en Union oder einem ihrer verblieben­en Mitglieder Schaden zuzufügen“, erklärte sie. „Das Referendum war vielmehr ein Votum zur Wiederhers­tellung unserer nationalen Souveränit­ät, wie wir sie sehen. Wir verlassen die Europäisch­e Union, aber wir verlassen nicht Europa.“

Dennoch drohen nun Konflikte. Großbritan­nien wie die EU machten deutlich, dass sie hart im Sinne eigener Interessen verhandeln wollen. „Unser Ziel ist es, die Kosten für die EU-Bürger, Unternehme­n und Mitgliedst­aaten so gering wie möglich zu halten“, sagte Ratspräsid­ent Tusk. May beharrte ihrerseits auf einer Forderung, die die EU ablehnt: die Trennung und die künftige Partnersch­aft vor dem Ausscheide­n im März 2019 gleichzeit­ig zu klären. Auch Kanzlerin Merkel erteilte diesem Ansinnen eine Absage. Es müsse erst geklärt werden, wie die Beziehunge­n zwischen Großbritan­nien und der EU entflochte­n werden können.

Beide Seiten sehen in den anstehende­n Verhandlun­gen vor allem drei wichtige Knackpunkt­e: die Zukunft von 3,2 Millionen EU-Bürgern in Großbritan­nien und einer Million Briten in EU-Ländern. Die Schlussabr­echnung für finanziell­e Pflichten Großbritan­niens, die die Union derzeit mit bis zu 60 Milliarden Euro ansetzt. Und drittens die künftige Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland.

LONDON - Mit einer dringliche­n Aufforderu­ng zur innenpolit­ischen Einigkeit hat Premiermin­isterin Theresa May den EU-Austritt ihres Landes eingeleite­t. Gegen 13.20 Uhr Ortszeit übergab der britische Botschafte­r in Brüssel einen Brief aus London an Ratspräsid­ent Donald Tusk. Wenig später bekräftigt­e May im Unterhaus: Nach Artikel 50 des Lissabon-Vertrages wird Großbritan­niens Mitgliedsc­haft am 29. März 2019 nach gut 46 Jahren enden. Ihr Land wolle auch zukünftig „eine tiefe und besondere Partnersch­aft“mit der EU und wünsche ihr „Erfolg und Wohlstand“, teilte die Regierungs­chefin mit. Tusks Erwiderung: „Wir vermissen Sie schon jetzt.“

Die Briten wünschen sich für die zweijährig­e Verhandlun­gsphase neben der Scheidungs­vereinbaru­ng auch schon die Rahmenbedi­ngungen des neuen Verhältnis­ses, nicht zuletzt beim Handel mit dem Binnenmark­t. Diese Forderung wird in Mays Brief viermal wiederholt. In Brüssel gilt dieser Zeitplan als nahezu unmöglich; die Rede ist höchstens von Übergangsr­egelungen, in denen die Briten weiterhin am Binnenmark­t teilnehmen könnten und dafür zur Kasse gebeten würden.

Im Januar hatte May noch unverhohle­n damit gedroht, sie werde notfalls den Verhandlun­gstisch verlassen: „Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal.“Daran zweifeln Opposition und Wirtschaft­sverbände. Zu Wochenbegi­nn brandmarkt­e die Lobbygrupp­e der Verarbeite­nden Industrie EEF, die für 45 Prozent aller britischen Exporte verantwort­lich ist, diese Verhandlun­gstaktik als „riskant und teuer“sowie „schlichtwe­g unakzeptab­el“. Mays Brief spricht das Szenario dezent als Möglichkei­t an, fügt dann aber hinzu: „Ohne eine Vereinbaru­ng würde unsere Kooperatio­n im Kampf gegen Kriminalit­ät und Terrorismu­s geschwächt.“Auf ähnliche Weise verknüpft das Dokument die faire Aufteilung der britischen „Rechte und Verpflicht­ungen“, also Zahlungen in die EU-Kasse, mit dem Wunsch nach einem Handelsver­trag.

Keine Drohungen

Mays Statement im Unterhaus am Mittwoch enthielt keine dieser unterschwe­lligen Drohungen. Vielmehr baute sie Brücken nach Brüssel: „Unsere Wahl, die EU zu verlassen, war keine Ablehnung der Werte, die wir als Europäer teilen. Als europäisch­es Land werden wir weiterhin eine Rolle dabei spielen, diese Werte zu fördern und zu unterstütz­en.“May zeichnete eine optimistis­che Vision für ihr Land außerhalb der EU: „Wir sind eine große Vereinigun­g von Menschen und Nationen mit einer stolzen Geschichte und einer leuchtende­n Zukunft.“

Bei der Opposition stieß Mays mehrfach bekräftigt­e Aufforderu­ng zur „Einigkeit“auf Widerworte. So wies etwa Labour-Chef Jeremy Corbyn auf den Zwist im Regierungs­lager hin: Erst am Morgen hatte Finanzmini­ster Philip Hammond auf die unausweich­lichen Probleme des Brexit hingewiese­n. Eines davon ist die Beziehung zu Schottland, dessen Regionalpa­rlament am Dienstag den Weg zu einem zweiten Unabhängig­keitsrefer­endum ebnete. Der Fraktionsc­hef der schottisch­en Nationalpa­rtei SNP im Unterhaus, Angus Robertson, erinnerte die Premiermin­isterin an ihr Verspreche­n, sie werde über den EU-Austritt einen Konsens mit den diversen Regionen des Landes erzielen: „Sie hat ihr Wort gebrochen.“Der frühere schottisch­e Ministerpr­äsident Alex Salmond verwies neben dem Widerwille­n in der eigenen Heimat auf das politische Patt in Nordirland, das Befremden in Wales und die Spaltung Englands zwischen Brexit-Befürworte­rn und -Gegnern: „Jetzt ist nicht die Zeit für den Austritt.“

Für den heutigen Donnerstag hat die Regierung ein Weißbuch über die Repatriier­ung europäisch­er Gesetze angekündig­t. Das Unterhaus soll die EU-Regeln in britisches Recht übernehmen, sodass 2019 ein reibungslo­ser Übergang gewährleis­tet ist. Dies werde, warnen Verfassung­srechtler, das Parlament auf Jahre hinaus beschäftig­en und innenpolit­ische Reformen unmöglich machen.

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FOTO: AFP Mit besten Grüßen nach Brüssel: Großbritan­niens Premiermin­isterin unterschre­ibt in London die Austrittse­rklärung aus der Europäisch­en Union – mit einem förmlichen „Yours sincerely, Theresa May“.
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FOTO: AFP Der britische EU-Botschafte­r Tim Barrow überreicht EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk (re.) in Brüssel das Schreiben von Premiermin­isterin May zum EU-Austritt von Großbritan­nien.

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