Schwäbische Zeitung (Wangen)

Wo auf Frau Merkel eine Gulaschsup­pe wartet

Die traditions­reichen Seebäder an Rügens Ostseeküst­e haben ihr verstaubte­s Kurbad-Image abgelegt

- Von Christiane Pötsch-Ritter

m Nachlass seiner Urgroßtant­e hat Michael Gronegger ein Kleinod entdeckt aus ihrer Zeit als Pensionswi­rtin im Hause Klünder. Eine Postkarte mit einer Ansicht der 1904 an der Strandprom­enade im Ostseebad Binz erbauten Villa. Sogar der Hinweis auf den Rügener Telefonans­chluss – Fernspr. 247 – fehlt nicht. Auf der Rückseite findet sich in feinster Sütterlins­chrift eine Art Last-Minute-Offerte der Tante, adressiert an eine in Berlin-Friedenau wohnhafte Dame. Mit Datum 9. August 1929 teilt sie der „sehr geehrten gnädigen Frau“mit, dass sie „am 16. 8. im II. Stock nach dem Garten gelegen ein nettes Zimmer frei bekam, der Pensionspr­eis würde 7 Mark betragen“. Ihrer Antwort sehe sie gerne entgegen. Wie sie ausfiel, konnte der Neffe leider nicht mehr in Erfahrung bringen.

Bäderarchi­tektur in Binz

Im sonnigen Souterrain hat der gebürtige Rheinlände­r für interessie­rte Gäste eine kleine Ausstellun­g arrangiert zur Historie dieses Hauses, das ihm nach der Wende, „über Nacht von Amts wegen auf die Füße gefallen ist“. Es hat Jahre gekostet und viel Geld und Zuschüsse, aber nun steht es wieder da wie auf den alten Fotos, ein schönes Beispiel für die Bäderarchi­tektur, die das Bild der Ferienorte an der Ostsee Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts prägte. Innen hat er einige Eingriffe zulasten der vormals weiträumig­en Diele vornehmen müssen. Dafür gibt es jetzt einen Aufzug, und in jeder der dreizehn Ferienwohn­ungen selbstrede­nd Bad und Toilette. Etagenklos standen den Pensionsgä­sten im Haus Klünder schon vor über hundert Jahren zur Verfügung. Auch für die Betuchtere­n damals keine Selbstvers­tändlichke­it, sagt der Banker im Ruhestand, der sich gut darin erinnert, wie er in den Fünfzigerj­ahren in den Ferien bei seinen Großeltern im Rheinland mit dem Plumpsklo im Hof vorliebneh­men musste.

Richtig „durch die Decke“geht die Nachfrage nach seinen Wohnungen, seit er die Fenster zur See hin in der Höhe nochmal um die Hälfte hat vergrößern lassen. Vor allem im Turm, der im Krieg zu Teilen zerstört worden war, fühlen sich die Gäste dem Himmel und dem Meer nun ganz nah. Um sie werben muss Gronegger schon lange nicht mehr. Und konkurrier­en, so beteuert er, allenfalls mit den fünf Villen rechts und links, die sich hier genau wie die seine entlang der Strandprom­enade präsentier­en können mit ihren Türmchen, Balkonen, Veranden, Loggien und filigranen Holzverzie­rungen.

Abgesehen von der strahlend weißen Fassade als gemeinsame­s Merkmal besonders der Binzer Bäderarchi­tektur, haben sich die Baumeister seinerzeit munter aller möglichen Stile bedient, nicht selten mit einer Vorliebe für die Antike. Das 1907 erbaute Kurhaus, in dem inzwischen das „Hotel Charme Kurhaus Binz“residiert, beeindruck­t mit Säulenport­al und schlossähn­lichen Ausmaßen. In den 1920er-Jahren lockte es mit rauschende­n Bällen im Kursaal Industriel­le und Ärzte, Juristen und Beamte an die Rügener Ostküste. Im Grunde die Klientel, auf die das Ostseebad Binz laut Kurdirekto­r Kai Gardeja auch heute wieder setzt. Freilich mit zeitgemäße­n Verlockung­en jenseits des angestaubt­en Kurbad-Images. Der beliebte „Bäderlauf“ist ein Halbmarath­on für Ambitionie­rte und das „Anbaden“im historisch­en Badedress zu Frühjahrsb­eginn erklärterm­aßen auch „nichts für Warmdusche­r“. Im September geht zum vierten Mal der „Ironman 70.3 Rügen“über die Bühne, mit Start an der Binzer Seebrücke. Alljährlic­h im März ist Rügen auch Schauplatz der Festspiele Mecklenbur­g-Vorpommern mit hochkaräti­g besetzten Konzerten, Lesungen und Matinees. Beim prämierten „Blue Wave Festival“rund um den Binzer Kurplatz trifft sich im Juni die internatio­nale Blues-Szene.

Futuristis­cher Rettungstu­rm

Von dort reichen dann wenige Schritte, um Ulrich Müther zu begegnen, dem größten Sohn des Seebades, der mit seinen futuristis­chen Betonschal­enkonstruk­tionen Architektu­rgeschicht­e schrieb. Sein Rettungstu­rm scheint wie ein Ufo über dem Strand zu schweben. Vom Meer aus gesehen bildet das stielaugen­ähnliche Bauwerk einen interessan­ten Kontrast zu den historisie­renden Logierhäus­ern dahinter. Inzwischen hat es als Raum für Trauungen eine neue Bestimmung gefunden. Daneben hat der Bauvisionä­r den Rügener Urlaubsgäs­ten noch so inspiriere­nde Werke hinterlass­en wie die Kurmuschel am Strand von Sassnitz und den Orchesterp­avillon an der Naturbühne in Ralswiek und zuletzt das wie eine riesige Pilzschale gespannte Dach auf dem „Inselparad­ies“in Baabe. Vor Kurzem ist in die ehemalige FDJ-Disco ein italienisc­hes Restaurant eingezogen.

Gigantisch­er Betonblock

Eine andere, zweifelhaf­te touristisc­he Hinterlass­enschaft ist dem Ostseebad Binz in Gestalt des „Koloss von Prora“eher schmerzlic­h auf die Füße gefallen. Über viereinhal­b Kilometer erstreckt sich die gigantisch­e Anlage, welche die Nationalso­zialisten hier von 1936 bis 1939 als „KdF-Seebad der Zwanzigtau­send“am Traumstran­d errichten ließen. Unter dem Motto „Kraft durch Freude“sollten die arbeitende­n Massen hier Urlaub machen und zugleich für die Kriegs-, Lebensraum- und Rassenpoli­tik des NS-Regimes gefügig gemacht werden. Einer der fünf Blöcke ist bis heute als Denkmal der Zeitgeschi­chte erhalten. Platz genug unter anderem für eine große Jugendherb­erge und ein Dokumentat­ionszentru­m, die beide einen wichtigen Beitrag gegen die Geschichts­vergessenh­eit leisten. Für die restlichen vier Abschnitte der Anlage haben sich Investoren gefunden, die mit Slogans wie „Weltbekann­tes Baudenkmal wird zur Wohlfühloa­se“um Käufer schicker Eigentumsw­ohnungen und Hotelapart­ments werben. Das Gros ist inzwischen verkauft, das Hotel eröffnet.

Wer will, kann hier frühmorgen­s am Strand einen bezaubernd­en Sonnenaufg­ang erleben und den Koloss einfach links liegen lassen – hinter den hochgewach­senen Kiefern lässt er sich allenfalls noch erahnen. Anderersei­ts ist es von der Prorer Wiek nur ein Sprung bis zum Baumwipfel­pfad im Naturerbe-Zentrum, wo man in lauen Sommernäch­ten auf Fledermaus­tour gehen oder von der Plattform 82 Meter hoch über der Ostsee Sternschnu­ppen bestaunen kann. Für eine Wanderung von Sassnitz entlang der Kreideküst­e durch den Nationalpa­rk Jasmund wiederum ist ein sonniger, leicht windiger Tag ideal, wenn die Strahlen durch das Buchenblät­terdach dringen, um die ganze ursprüngli­che Natur darunter in ein flirrendes Licht zu tauchen. Seit 2011 gehört der Wald zum Unesco-Weltnature­rbe „Urwälder der Karpaten und Alte Buchenwäld­er Deutschlan­ds“. Zum Glück für den gemeinen Wanderer, der bei aller Begeisteru­ng für den Urwald oft wenig darüber weiß, gibt es auf halber Strecke zum Kaiserstuh­l ab sofort das Welterbefo­rum. In dem liebevoll restaurier­ten, ehemaligen Ausflugslo­kal „Waldhalle“kann man sich nun den nötigen Durchblick verschaffe­n mittels einer fasziniere­nden Schau, und nebenher „ein Käffchen“genießen, wie die Sassnitzer sagen, oder eine Gulaschsup­pe nach dem Original-Waldhallen-Rezept. Am 6. Juni ist feierliche Eröffnung. Eingeladen ist auch die für den Wahlkreis Rügen zuständige Bundestags­abgeordnet­e Angela Merkel. Auch wenn sie wohl verhindert sein wird: Man kann sich gut vorstellen, dass es keinen Ort auf der Welt gibt, wo sie lieber wäre.

Weitere Informatio­nen zu Rügen gibt es bei der Tourismusz­entrale Rügen, Circus 16, 18581 Putbus, Tel.: 03838/807780, Internet: www.ruegen.de Die Recherche wurde unterstütz­t vom Tourismusv­erband Mecklenbur­g-Vorpommern und der Tourismusz­entrale Rügen.

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FOTOS: CHRISTIANE PÖTSCH-RITTER Auch bei weniger gutem Wetter ein lohnendes Fotomotiv: die Kreidefels­en an der Ostküste Rügens.
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Einst Rettungstu­rm, heute beliebter Ort für Trauungen.
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Michael Gronegger vor dem Haus, das ihm nach der Wende „auf die Füße gefallen ist“.
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