Spenden schaffen Lichtblicke in Chaos, Krieg und Vertreibung
Weihnachtsaktion der „Schwäbischen Zeitung“kommt im Flüchtlingscamp Mam Rashan an – Flüchtlinge danken Lesern
„Gerade auch die Leserinnen und Leser der ,Schwäbischen Zeitung‘ haben hier Großes geleistet, was auch sehr stark hier wahrgenommen wird“, lobt der stellvertretende deutsche Generalkonsul in der kurdischen Hauptstadt Erbil, Christofer Burger.
Zaar Gir hat es mit ihrer Familie geschafft: Die heute 32-Jährige konnte im August 2014 in letzter Minute vor den Kämpfern des Terrorregimes „Islamischer Staat“(IS) fliehen, die ihr Dorf im Sindschar-Gebirge an der Grenze des Irak zu Syrien überrannten. Über Umwege kamen die Witwe und ihre fünf Kinder ins Flüchtlingslager Mam Rashan. Im Wohncontainer „Aalen“, gespendet von den Lesern der „Schwäbischen Zeitung“, lebt die Familie seit zwei Monaten: „Wir sind den Deutschen für die Hilfe sehr dankbar“, sagt Zaar Gir. Ihre Nachbarn sind im Wohncontainer „Immendingen“daheim, ein paar Schritte weiter wachsen in einem kleinen Garten vor dem Container „Trossingen“schon Kräuter. Der Schriftzug „Helfen bringt Freude“, der auf jedem Container angebracht ist, erinnert an die Weihnachtsspendenaktion 2016 der „Schwäbischen Zeitung“in Zusammenarbeit mit dem DiözesanCaritasverband Rottenburg-Stuttgart. Mehr als eine halbe Million Euro spendeten die Leserinnen und Leser, die Hälfte davon floss ins Flüchtlingscamp Mam Rashan, die andere Hälfte ging an 59 verschiedene lokale Hilfsaktionen.
Das Ergebnis der Weihnachtsspendenaktion allein für das Flüchtlingsdorf Mam Rashan, in dem vor allem geflüchtete Jesiden und Christen leben, ist beeindruckend: 19Wohncontainer, eine Begegnungsund Freizeitstätte für Jugendliche, ein kleines Ausbildungszentrum für junge Frauen, eine Bäckerei und ein kleiner Basar sind in den vergangenen Monaten entstanden. Noch im Bau ist ein Fußballplatz, der in den nächsten Wochen eröffnet werden soll. Speziell für junge missbrauchte Frauen ist ein Therapieraum eingerichtet worden, in dem Therapeuten Gespräche führen können. Jetzt wurden die Projekte offiziell an die Flüchtlinge übergeben.
Perspektiven für die vielen Kinder
„Mit dieser Einrichtung bringen Sie das Flüchtlingslager Mam Rashan wirklich weiter“, sagt der stellvertretende Gouverneur der Provinz Dohuk, Ismael Ahmad, während der Eröffnungsfeier in der Begegnungsund Freizeitstätte vor 100 Gästen. Der Bürgermeister ist gekommen, ebenso der Polizeichef und der stellvertretende Landrat. Im Camp seien derzeit 1850 Container bewohnt, sie bieten 1180 Familien, also 10 700Menschen, Obdach, zählt Ahmad auf. Vor allem für die vielen Kinder und Jugendlichen Perspektiven zu schaffen, sei überaus wichtig, sagt Ahmad, das Engagement der Deutschen beispielhaft.
Für die Deutschen hingegen erstaunlich ist die großartige Gastfreundschaft der Kurden. Die meisten leiden unter der Wirtschaftskrise, fast alle jungen Männer sind arbeitslos, dazu kommen die vielen, vor dem IS geflüchteten arabischen Iraker und auch Syrer, die hier ohne größere Probleme und Ressentiments aufgenommen wurden. Auf jeden vierten Kurden kommt ein arabischer Binnenflüchtling. Doch nirgendwo sieht man Schmierereien an Häuserwänden oder hört fremdenfeindliche Parolen.
Während Ahmad den Leserinnen und Lesern der „Schwäbischen Zeitung“dankt, rutschen in den hinteren Zuhörerreihen die vielen Kinder, die zur Eröffnungsfeier gekommen sind, unruhig auf ihren Stühlen hin und her. Sie haben einen Tischkicker entdeckt, wollen gegen den Campleiter Shero Smo ihr Match fortsetzen. Die Jugendlichen möchten an die Tischtennisplatte.
Doch nun spricht der stellvertretende Generalkonsul Deutschlands in der kurdischen Hauptstadt Erbil, Christofer Burger, zu den Besuchern der Eröffnungsfeier: „Hier im Lager Mam Rashan wohnen Menschen, die wirklich alles verloren haben, zum größten Teil Jesiden, die nur ihr nacktes Leben retten konnten, als der IS ihre Dörfer überfallen hat.“Deutschland sorge nicht nur für Unterkünfte und Nahrung zum Überleben. Es geschehe viel mehr: „Wir geben ihnen ein Stück Würde und Hoffnung für die Zukunft zurück.“Bis der IS besiegt werden könne, sei viel Arbeit zu leisten, sagt der Diplomat. Es sei nun wichtig, „dass die Menschen für die nächsten Monate hier eine Perspektive bekommen, um sich fortzubilden und ein wenig Normalität auch zu erleben.“Dann lobt Burger die Hilfsbereitschaft der Menschen in Deutschland: „Gerade auch die Leserinnen und Leser der ,Schwäbischen Zeitung‘ haben hier Großes geleistet, was auch sehr stark hier wahrgenommen wird.“Er hoffe, dass diese Hilfsbereitschaft erhalten bleibe.
Doch wie lassen sich Würde und Hoffnung auch nur im Ansatz wieder herstellen? In Mam Rashan leben viele Opfer von Missbrauch, Gewalt, Terror und Vertreibung. Die ethnisch-religiöse Minderheit der Jesiden im Nordirak wurde seit 2014 Opfer eines Völkermordes durch den IS. Tausende Männer wurden getötet, Frauen versklavt. Noch immer sind über 3000 Mädchen und Frauen in der Hand der IS-Terroristen.
Raum, Zeit und Fläche für Psychotherapie
Unter dem Dach der Begegnungsund Freizeitstätte öffnet sich die Tür zu einem Therapieraum. Niemand weiß, wie viele Frauen vergewaltigt wurden, wie viele Kinder missbraucht wurden. Die vielen traurigen Augen in Mam Rashan lassen Schlimmes ahnen. Auch nach ihrer Befreiung leiden die Opfer unter schweren Traumata, ohne dass es eine angemessene Behandlung gibt. Für rund 5,5 Millionen Menschen im Nordirak stehen nur 26 Psychotherapeuten zur Verfügung. Diese sind angesichts der vielen Gewaltopfer völlig überfordert. Darum unterstützt die Landesregierung von BadenWürttemberg ein an der Universität Dohuk angesiedeltes Traumazentrum. „Wir bilden die Studierenden über drei Jahre nach deutschen Standards aus“, sagt Mamou Farhan Othman, der Vizedekan am Institut für Psychotherapie und Psychotraumatologie. Die Landesregierung in Stuttgart garantiert ihnen Stipendien für die ersten 18 Monate. Dann könnten die heute 30 Studierenden auch in Mam Rashan therapieren.
Junge Jesidinnen nähen ihre Kleidung selbst
Wenige Schritte weiter ist eine kleine Nähstube eingerichtet worden. Junge Jesidinnen lernen hier den Umgang mit Stoffen, Nadel und Faden. Nähmaschinen stehen bereit. „Wir wollen lernen, wie wir uns unsere Kleider selbst nähen können“, freuen sich Ramsija Najef, Jusef Widad und Yezidea Khekivis darauf, an die Arbeit zu gehen. Die 20-Jährigen stammen aus dem Sindschar-Gebirge, mussten fliehen und versuchen nun in Mam Rashan, ihren Tagen Struktur und ihrem Leben Perspektive zu geben. „Wir brauchen Stoff, um nähen zu können!“Ob und wann sie in ihre Heimatregion zurückkehren können, ist offen. Die Sicherheitslage im Sindschar-Gebirge ist dramatisch, Minen gefährden jeden Schritt außerhalb geräumter Wege und Häuser.
Der Festakt ist zu Ende, die Besucher schauen sich noch ein wenig im Lager Mam Rashan um. Ihr Blick fällt auf den Fußballplatz, der halb fertig ist. „In wenigen Wochen werden wir einen Kunstrasen verlegen“, blickt Shero Smo, der Leiter des Flüchtlingslagers, voraus. Der Fußballplatz sei wichtig, lenke die Kinder und Jugendlichen ab. Auf dem Rundgang kommen die Besucher an der Schule vorbei, in der geflüchtete Lehrer im Zwei-SchichtBetrieb die vielen Kinder unterrichten. Smo weiß: „Den Eltern ist die Bildung ihrer Kinder unheimlich wichtig, denn die Kinder werden ja irgendwann zurückkehren und ein selbstbestimmtes Leben beginnen.“
Der Rundgang führt zur Bäckerei. Im „Haus Wangen“backen Najla Ahmad und Mayan Hussein, auch sie sind Jesidinnen, Fladenbrote: „10 000 Brote verlassen jeden Tag unsere Bäckerei“, berichten die jungen Frauen. Die frischen Brote duften – und ganz nebenbei haben nicht nur die Jesidinnen Arbeit gefunden, auch normalisiert sich das Leben in Mam Rashan.
Wenige Meter weiter bieten auf einem kleinen Basar Händler ihre Waren an. Auch hier sind Spendengelder der Weihnachtsaktion angekommen. Khals Qolo beispielsweise bietet Schreibwaren an, nebenan schneidet ein Friseur einem Kunden die Haare: „Wir tun viel, um den Menschen hier Würde und Hoffnung zu geben“, begründet Shero Smo die Einrichtung des Basars. Jeder Laden gibt nach seinen Angaben zwei Familien Arbeit und ein kleines eigenes Einkommen.
Der Rundgang endet bei den 19Wohncontainern, die mit dem Logo „Helfen bringt Freude“versehen sind: „Hier ist eine echte schwäbische Siedlung entstanden“, dankt Shero Smo. Die Witwe Zaar Gir, jene Frau, die mit ihren fünf Kindern im Wohncontainer „Aalen“lebt, hat Tee gekocht und berichtet: „Mein Mann, er war Bauunternehmer, ist seit zehn Jahren tot.“Er habe eine kurdische Schule gründen wollen, wurde deswegen ermordet. Die Frau musste die fünf Kinder alleine erziehen. Doch das Schicksal schlug nochmals zu: „Wir sind seit dem 3. August 2014 auf der Flucht.“Der IS habe das Heimatdorf im SindscharGebirge mit 300 Häusern überfallen, Bomben geworfen. 2000 Einwohner mussten fliehen. „Mitten in der Nacht begann das Bombarde- ment, um 7 Uhr morgens sind wir, noch im Schlafanzug, geflohen.“Mit drei Töchtern und zwei Söhnen, die heute zwischen zehn und 14 Jahre alt sind.
Für Menschen wie Zaar Gir haben die Leserinnen und Leser der „Schwäbischen Zeitung“gespendet, ermöglichen ihnen ein Leben in Hoffnung, Würde und Anstand. „Bitte richten Sie unseren Dank aus“, bittet Zaar Gir den Reporter, „wir brauchen euch auch weiter.“