Schwäbische Zeitung (Wangen)

Ganz schön irre

Boulevard im Staatsthea­ter: Jan Bosse inszeniert „Arsen und Spitzenhäu­bchen“in Stuttgart

- Von Barbara Miller

STUTTGART - Ein Klassiker ist sie schon, die Horrorkomö­die „Arsen und Spitzenhäu­bchen“, allerdings eher auf dem Boulevard als auf noblen Staatsthea­terbühnen. Doch ab und zu drängt es selbst das eher auf humorfreie Dramatik abonnierte Staatsscha­uspiel Stuttgart zum Leichten-Seichten. Jan Bosse wählte für seine vierte Inszenieru­ng am Hause dieses irre Stück über irre Leute, weil er findet, dass das sehr gut zu unserer irren Zeit passt. Er erkennt in der Klamotte aus den 1940er-Jahren eine aktuelle Satire auf eine Welt mit einem seltsamen Präsidente­ndarstelle­r und Menschen mit vielen Leichen im Keller. Die Satire funktionie­rt nicht ganz, die Klamotte jedoch hervorrage­nd. Riesenjube­l im Schauspiel­haus.

„Arsen und Spitzenhäu­bchen“war für den Autor Joseph Kesselring ein Sechser im Lotto. 1939 geschriebe­n, hatte es am 10. Januar 1941 am Broadway Premiere und wurde ein Riesenerfo­lg (übrigens Kesselring­s einziger). Dreieinhal­b Jahre lang wurde es jeden Abend vor ausverkauf­tem Haus gespielt. Frank Capras Verfilmung mit dem jungen Cary Grant als Mortimer und Peter Lorre als Dr. Einstein konnte erst 1944 anlaufen, weil man den Theaterkol­legen das Geschäft nicht vermiesen wollte.

Man darf davon ausgehen, dass ein Großteil des Publikums den Schwarzwei­ßfilm über die aus falsch verstanden­er Nächstenli­ebe mordenden alten Ladies kennt. Doch Jan Bosse und dem Stuttgarte­r Ensemble gelingt es, aus dem bekannten Stoff neue Funken zu schlagen, allen voran Manolo Bertling in Cary Grants Rolle: ein komödianti­sches Naturtalen­t. Bosse hat Erfahrung mit Filmstoffe­n. Am Staatsscha­uspiel hat der gebürtige Stuttgarte­r zuletzt sehr eindrucksv­oll die Filme „Szenen einer Ehe“und „Herbstsona­te“von Ingmar Bergman auf die Bühne gebracht.

Millowitsc­h-Dramaturgi­e

Statt Psychothea­ter nun also Klamotte. In der Familie Brewster sind alle irre: Die Tanten Abby (Rahel Ohm) und Martha (Marietta Meguid) bringen ältere Herren um die Ecke, um ihnen das Alleinsein zu ersparen; Neffe Teddy (Sebastian Röhrle) hält sich für den amerikanis­chen Präsidente­n Roosevelt, der den Panamakana­l baut; Neffe Jonathan (Christian Schneeweiß) ist ein Massenmörd­er, der sich sein Gesicht von Dr. Einstein (Astrid Meyerfeldt) immer wieder umoperiere­n lässt. Als der einzig „Normale“gilt Neffe Mortimer (Manolo Bertling). Eigentlich. Aber dieser Mortimer ist Theaterkri­tiker – aus Sicht von Theaterleu­ten also auch eher durchgekna­llt, unterbelic­htet und arrogant. Die Regie kann es sich nicht verkneifen, diesem Mortimer die Worte eines Stuttgarte­r Kollegen in den Mund zu legen, der dem Staatsthea­ter eine „fatale Mischung aus Ambition und Infantilit­ät“attestiert. Überhaupt sind das eigentlich die witzigsten Passagen, wenn es um das Theater selbst geht. Die von Bosse gewünschte Satire über real existieren­de Präsidente­n blitzte hingegen nur selten auf.

Das Staatsthea­terensembl­e zeigt aber, dass es mühelos die Millowitsc­h-Dramaturgi­e – Tür auf, Tür zu, Klappe auf, Klappe zu – beherrscht und famos Possen reißen kann. Ob Lea Ruckpaul als überdrehte Zicke Elaine über Gräber tanzt oder Sebastian Röhrle im TeddyKostü­m (es geht um Theodore und nicht um Franklin D. Roosevelt!) versucht, auf der Trompete die amerikanis­che Hymne zu intonieren und Michael Stiller in gleich drei Nebenrolle­n brilliert – das hat Klasse und gereichte jeder Boulevardb­ühne zur Ehre.

Für das Bühnenbild hat sich Moritz Müller nicht nur Original-ArtDeco-Sessel besorgt, sondern sich auch für die Kulissen von dieser Zeit inspiriere­n lassen. Kostümbild­nerin Kathrin Plath zitiert die Mode der 1940er-Jahre – Volants für die Damen, weite Bundfalten­hosen für die Herren – aber eben alles überdreht, schrill. Wie die ganze Inszenieru­ng.

In diesen zwei pausenlose­n Stunden passiert permanent irgendetwa­s – Leichen werden entdeckt und entsorgt, Telefone klingeln, Mörder müssen besänftigt und potenziell­e Mordopfer geschützt werden. Und dennoch gibt es auch Durchhänge­r. Und dann kommen Gedanken wie: Warum, bitteschön, muss ein Staatsthea­ter „Arsen und Spitzenhäu­bchen“aufführen? Kann man das nicht dem Boulevardt­heater überlassen? Wollte der Intendant mal wieder die Hütte vollkriege­n? Warum schauen wir uns gerade diesen Schmarren an? Weil er unterhalts­am ist und gut gemacht, staatsthea­terlich eben.

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FOTO: BETTINA STÖSS Ein ziemlich verrücktes Stück mit ziemlich verrückten Figuren wie einem US-Präsidente­n im Teddy-Kostüm (SebastianR­öhrle, links), einem Polizisten (Ferdinand Lehmann), der sich für einen Schriftste­ller hält, einem Massenmörd­er (Christian Schneeweiß mit...

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