Süchtig nach den höchsten Bergen der Erde
Der Wasserburger Jürgen Spescha ist 74 Jahre alt – und hat schon mehrere 8000er bestiegen
WASSERBURG ●
- Jürgen Spescha ist süchtig. Die Droge des 74-Jährigen aus Wasserburg bei Lindau sind die Berge, vor allem die ganz hohen. Während andere in seinem Alter Radtouren mit dem E-Bike machen, erklimmt er die höchsten Gipfel der Erde. Sein Arzt rät ihm schon lange, den Extremsport an den Nagel zu hängen, spätestens seit er vor zehn Jahren eine künstliche Hüfte bekommen hat. Doch Spescha kann nicht. Bereits nach wenigen Wochen bekommt er Entzugserscheinungen. Und das, obwohl ihn ein 8000er beinahe das Leben gekostet hätte.
„Dieser Schock hat schon ein, zwei Jahre lang angehalten“, erzählt Spescha. Der schreckliche Unfall passierte vor etwa 15 Jahren. Spescha hatte sich zum 60. Geburtstag die Besteigung des 8163 Meter hohen Manaslu in Nepal geschenkt. Doch die Expedition steht unter keinem guten Stern. Das Wetter ist miserabel, kurz vor dem Gipfel müssen die Bergsteiger schließlich umkehren. Beim Abstieg passiert es dann: Spescha springt über eine Spalte, verliert das Gleichgewicht und stürzt kopfüber ins schwarze Nichts.
30-, 40-mal überschlagen
„Mein Leben ist an mir vorbeigezogen.“Während Spescha erzählt, starrt er ins Leere. Sein schlimmstes Erlebnis am Berg jagt ihm noch immer einen Schauer über den Rücken. Der damals 60-jährige, extrem schmächtige Mann überschlägt sich unzählige Male. „Es muss 30-, 40-mal gewesen sein, genau kann ich es nicht mehr sagen.“Nach 200 Metern bleibt er schließlich liegen. „Ich hatte mit meinem Leben abgeschlossen. Ich habe nur gehofft, dass es schnell geht.“
Der Manaslu ist nicht nur der achthöchste Berg der Erde, er gehört auch zu den gefährlichsten. Erst 2012 sind dort zwölf Bergsteiger bei einem Lawinenabgang ums Leben gekommen. Doch Spescha rafft sich auf, kämpft sich Millimeter für Millimeter durch den dichten Nebel – bis er vor einer riesigen Spalte steht. Ein Hindernis, das er unmöglich überwinden kann. Aber er hat Glück: Bergsteigerkollegin Paula, mit der er gemeinsam abgestiegen war, hatte im Basislager tatsächlich Hilfe gefunden. Ein Australier steigt schließlich zu Spescha ab und rettet ihn. Für andere wäre das vielleicht der Punkt gewesen, an dem sie ihre Bergsteigerkarriere an den Nagel gehängt hätten. Nicht für Jürgen Spescha. Ohnehin ist der Tod auf seinen Touren ein ständiger Begleiter. Die Pfade zu den höchsten Gipfeln der Erde sind gesäumt mit Leichen. „Freilich ist es nicht schön, wenn man an einer Leiche vorbei läuft“, sagt Spescha. „Aber man konzentriert sich so auf den Gipfel, möchte da hoch, dass man sich in dem Moment keine Gedanken darüber macht.“Erst im Nachhinein, da frage er sich manchmal, ob es richtig sei, was er mache.
Doch er kann nicht anders. „Untersuchungen haben ergeben, dass in gefährlichen Situationen hart an der Todesgrenze der Mensch eine heroinähnliche Substanz produziert, die jeden Schmerz und jede Furcht betäubt“, versucht Spescha, der im normalen Leben eine Lotto-Annahmestelle in Lindau betreibt, zu erklären. Ein Bergsteiger werde davon abhängig wie von einer Droge.
Angefangen hat alles mit acht, damals lebte er noch im österreichischen Bregenz. Der Dorfpfarrer nahm ihn öfter mit in die Berge des Bregenzer Waldes. „Das war für mich das Allergrößte“, erinnert sich Spescha. Abhängig nach extremer Höhe wurde er vergleichsweise spät: Mit Ende 40 besteigt Spescha den knapp 6000 Meter hohen Kilimandscharo, das höchste Bergmassiv Afrikas. Fünf Jahre später folgt mit dem Mount McKinley der höchste Berg Nordamerikas – und der kälteste Berg der Erde. Dort herrschen selbst in den Sommermonaten Temperaturen von bis zu 50 Grad minus, der Wind pfeift mit einer Brutalität wie sonst selten.
Wie es das Schicksal wollte, bestieg Spescha gerade diesen unter Bergsteigern als extrem anspruchsvoll und tückisch bekannten Berg, ohne Führer. „Den haben sie in Handschellen abtransportiert, ins Gefängnis gesteckt und dann nach Deutschland zurückgeschickt“, erzählt er. Denn am Mount McKinley waren damals nur wenige, konzessionierte amerikanische Bergführer zugelassen, die sich die Konkurrenz vom Leib hielten. Denn Extrembergsteigen, das ist längst auch Kommerz: Eine Lizenz für den Mount Everest kostet zum Beispiel 11 000 Euro.
Nur kurz darauf besteigt Spescha seinen ersten 8000er, den Cho Oyu im Himalaya-Gebirge – komplett und ohne Sauerstoffgerät. Denn künstliche Hilfen beim Bergsteigen sind für den gebürtigen Bregenzer keine Option. „Wenn Du mit einem Sauerstoffgerät den Mount Everest besteigst, dann ist das als würdest du die Tour de France mit einem Mofa mitfahren“, bringt er es auf den Punkt. „Davor habe ich keinen Respekt.“ Die Konsequenz dieser Haltung ist, dass der 74-Jährige den höchsten Berg der Erde wohl niemals besteigen wird. „Das geht in meinem Alter einfach nicht mehr ohne Sauerstoffgerät“, räumt Spescha ein. Aber „Modeberge“wie der Mount Everest, aber auch das Matterhorn, an dem sich an Spitzentagen bis zu Hundert Alpinisten täglich versuchen, seien sowieso nicht sein Ding.
Auf dem Weg zum Gipfel des 8188 Meter hohen Cho Oyu kommen Spescha immer wieder Mitglieder anderer Expeditionen entgegen. Manche von ihnen leiden an einem Hirn- oder Lungenödem, andere müssen aufgeben, weil sie schlimme Erfrierungen an Händen und Füßen haben. Der kleine, drahtige Spescha, dessen optimales Bergsteigergewicht laut eigener Aussage bei 57 Kilo liegt, schafft den Gipfel ohne gröbere Zwischenfälle. Fünf Jahre später gibt er sich mit dem gut 8000 Meter hohen Gasherbrum II den nächsten Kick. „Wenn’s auf 8000 stehen, da gehn’s schon in die Knie. Das kann man nicht beschreiben, das muss man selber erleben“, beschreibt er das kurze Gipfelglück. Denn länger als ein paar Minuten hält es dort oben keiner aus.
Trotzdem: Bezwungen hat Spescha den Berg nur, wenn er ganz oben steht. Der Weg ist keinesfalls das Ziel. „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, es ist egal, ob man ganz oben ankommt“, sagt er. Er hält aber auch nichts davon, die Strapazen bis dahin zu verherrlichen. Das Wort „Gipfelsturm“zum Beispiel habe er noch nie gemocht. „Von Sturm reden da nur die Lyriker im Tal und Filmregisseure, wenn sie die masochistische Schinderei eines solchen Vorhabens mit heroischen Vokabeln belegen müssen“, sagt er.
Zwischen den höchsten und kältesten Bergen der Erde hat Spescha alle möglichen 5000er, 6000er und 7000er auf der ganzen Welt bestiegen. Erst vergangenes Jahr, mit 73, ist er in den Iran gereist, um dort eine Skitour auf den höchsten Vulkan Asiens, den 5610 hohen Damavand, zu unternehmen. „Arg viel höher geht es halt dann doch nicht mehr“, gibt Spescha zu. Vor zehn Jahren hat er bereits eine künstliche Hüfte bekommen. „Zwei Monate nach der OP stand ich wieder auf 3000 Metern.“Seinem Arzt, der ihn für verrückt erklärt habe, habe er vom Gipfel ein Foto geschickt.
Ohne Berge kann er einfach nicht. Und Jürgen Spescha weiß auch ganz genau, warum das so ist. „Es liegt an meinen Genen“, behauptet er. Tatsächlich hat sein Urururgroßonkel, der Schweizer Benediktinerpater Placidus a Spescha, vor langer Zeit schon Pionierarbeit im Bergsteigen geleistet: Neben unzähligen Erstbesteigungen erklomm er 1789 als erster Mensch das 3400 Meter hohe Rheinwaldhorn, den höchsten Berg der Adula-Alpen – ganz allein und ohne technische Hilfe. Dort ganz in der Nähe wurde der Piz a Spescha nach ihm benannt, am Schweizer Tödi gibt es noch heute die „Porta da Spescha“.
Könnte er seinen Urururgroßneffen erleben, Placidus a Spescha wäre wohl sehr stolz. Auch, wenn Jürgen Spescha sich jetzt vorgenommen hat, das Extrembergsteigen an den Nagel zu hängen. „Man soll mit der Gesundheit kein Schindluder treiben“, begründet er seine Entscheidung. Außerdem habe er die hiesigen Berge in der Vergangenheit sträflich vernachlässigt. Doch wer Jürgen Spescha kennt, der weiß: Das hat er schon sehr oft gesagt. Und noch nie durchgezogen. Denn er ist süchtig. www.schwäbische.de/spescha
„Ich hatte mit meinem Leben abgeschlossen. Ich habe nur gehofft, dass es schnell geht.“