Schwäbische Zeitung (Wangen)

Isoliert im Feindeslan­d

Sechs Jahre und sechs Monate Haft für einen Syrer, weil er ein Bombenatte­ntat plante – Musterfall für Radikalisi­erung eines Flüchtling­s

- Von Dirk Grupe

RAVENSBURG - Nachdem der Richter sein Urteil verlesen hat, nehmen Besucher, Pressevert­reter und Juristen wie üblich Platz. Der Angeklagte bleibt jedoch stehen. Mit gespreizte­n Fingern stützt er sich auf den Tisch im Landgerich­t Ravensburg, das Haupt gesenkt, wie erstarrt von dem Gehörten. Langsam setzt sich der schmale junge Mann schließlic­h hin, beugt sich nach vorne und vergräbt den Kopf zwischen seinen Beinen. Es lässt sich leicht vorstellen, wie der Urteilsspr­uch, einer Schockwell­e gleich, durch seinen Körper geschossen sein muss.

Sechs Jahre und sechs Monate Jugendstra­fe. Weil er bereit war, so der Richter, einen Mord zu verüben, das schwerste Verbrechen, welches das Recht kennt. Und weil er eine „staatsgefä­hrdende Gewalttat“vorbereite­t hatte. Mit 17 000 Streichhöl­zern und anderen Materialie­n für den Bau wohl gleich mehrerer Bomben war er von Biberach aus Richtung Dänemark gereist, um dort einen Komplizen des „Islamische­n Staates“zu treffen, um, so die Überzeugun­g des Gerichts, als Märtyrer zu sterben. Und um unschuldig­e Menschen mit in den Tod zu nehmen. Allein eine Nachlässig­keit verhindert­e die Einreise ins Nachbarlan­d, er hatte seinen Reisepass in der Biberacher Asylunterk­unft liegen gelassen.

Ein außergewöh­nlicher Fall

Vermutlich war der heute 21-Jährige von einer geringeren Strafe ausgegange­n, hatte die Staatsanwa­ltschaft doch lediglich fünf Jahre Haft gefordert, aus Sicht des Gerichts jedoch ein „außergewöh­nlich milder Antrag“, diese Einschätzu­ng teilte nach Prozessend­e auch der Anwalt des Angeklagte­n. Insofern geht das Urteil wohl in Ordnung, auch wenn es für alle Prozessbet­eiligten ein schwierige­r und „in mehrfacher Hinsicht außergewöh­nlicher Fall war“, wie der Richter feststellt­e. Außergewöh­nlich wegen der Schwere der Tatabsicht und wegen der „vollständi­gen Radikalisi­erung“des Angeklagte­n. Bemerkensw­ert aber auch, weil der junge Mann auf der einen Seite über eine überdurchs­chnittlich­e Intelligen­z verfügt, wie eine Gutachteri­n bescheinig­te, auf der anderen Seite mit schon grenzenlos­er Naivität nach Deutschlan­d kam. Eine Blaupause und ein Musterbeis­piel dafür, wie ein junger Flüchtling anfällig werden kann für die radikalen Einflüster­er des „Islamische­n Staates“. Weil er die hiesige Kultur nicht versteht, kommt er selbst doch aus einem völlig anderen Kulturkosm­os.

Seine Eltern werden im Alter von 17 beziehungs­weise 18 Jahren verheirate­t und leben in Madaya, rund 40Kilomete­r nördlich von Syriens Hauptstadt Damaskus, zunächst unter dem Dach des Vaters des Bräutigams, so üblich in der ländlichen Region. Der Großvater des jetzt Verurteilt­en ist Landwirt, der Vater gründet ein Schuhgesch­äft. „Das Leben dort ist vom Islam geprägt und aus einer Stammeskul­tur heraus entstanden“, erklärte vor Gericht die Ravensburg­er Psychiater­in und Gutachteri­n Roswitha Hietel-Weniger.

Die Männer präsentier­en die Familie, die Frauen kümmern sich um den Haushalt und die Kinder. „Es ist ein ganz altes System, ein archaische­s und ein patriarcha­lisches System“, so Hietel-Weniger. In der die Ehre über dem Individuum steht. Als Erstgebore­ner des jungen Paares ist die Rolle des jetzt Verurteilt­en vorbestimm­t, er ist der Auserwählt­e, der spätere „Stammesfüh­rer“, das Oberhaupt der Familie.

Was es heißt, in einer solchen Welt zu leben, muss er im Alter von elf Jahren mit ansehen. Ein fremder Mann hat die Verlobte eines Cousins angesproch­en, ein Tabubruch. Es kommt zur Blutfehde, bei der dieser Cousin und zweiter Cousin sterben. Um eine weitere Eskalation zu vermeiden, treffen sich die Patriarche­n und beschließe­n, dass von beiden Familien jeweils eine Person ins Gefängnis muss. So kommt es und der Fall ist beigelegt. „Die Familie lebt in einem völlig anderen Normenverh­ältnis als bei uns“, sagt dazu HietelWeni­ger, einem, in dem der Einzelne hinter der Gruppe zurücksteh­t.

Ab 2011 wird die Lage mit dem Arabischen Frühling unsicherer, der Bürgerkrie­g beginnt. 2016 erlebt Madaya eine humanitäre Katastroph­e, eingeschlo­ssen von Assads Soldaten und der Hisbollah verhungern die Menschen, die Bilder von den dahinsiech­enden Kindern mit ihren ausgehöhlt­en Augen und den dürren Armen gehen um die Welt. Doch so weit ist es damals noch nicht, unser Mann erweist sich als intelligen­t, macht Abitur und beginnt in Damaskus ein Ingenieurs­tudium. Von Heimweh geplagt, telefonier­t der Sensible täglich zwei Stunden mit der Mutter – und wird ohne Vorwarnung und ohne Grund, wie er sagt, vom Assad-Regime verhaftet. Drei Tage verbringt er im Gefängnis zusammenge­pfercht mit 60 Häftlingen in der Zelle. Anschließe­nd, von Schlafstör­ungen und Ängsten geplagt, reift der Gedanke an eine Flucht nach Deutschlan­d, wo er sich mit dem Fußballido­l Thomas Müller identifizi­ert, sein Studium fortsetzen und ein neues Leben beginnen möchte. „Die Planungen zeigen, wie wenig Realitätss­inn er hatte“, sagt Hietel-Weniger, die von „Tagträumer­ei“spricht.

Kulturscho­ck nach Flucht

So unvorberei­tet erreicht er im Sommer 2015 Deutschlan­d. „Und erlebt nach der Flucht einen Kulturscho­ck“, wie auch die Gerichtspf­legerin in einem weiteren Gutachten diagnostiz­iert. Schock, weil die hiesige Kultur seiner diametral entgegenst­eht. Verwundert stellt er fest, dass allerorts Alkohol ausgeschen­kt wird, er tut sich mit der Sprache schwer und wird in der Asylunterk­unft gemobbt. Ohne die Autorität des Vaters „hat er keine Orientieru­ng“. Und, so die Psychiater­in: „Er versteht unser System der Demokratie nicht.“

Ausgegrenz­t zieht er sich zurück und schreibt im Internet: „Ich bin verzweifel­t. Ich bin im Stich gelassen worden“, wen auch immer er damit anklagt. „Er hat sich isoliert gefühlt im Feindeslan­d“, so beschreibt Hietel-Weniger seinen Seelenzust­and.

In dieser Lage sucht er Halt im Bekannten: dem Glauben. Stundenlan­g surft er durchs Internet, beginnt Chats, auch mit Islamisten. Er ist nicht sofort vom „Islamische­n Staat“überzeugt, so die Psychiater­in, ungefähr vier Monate setzt er sich mit deren Gedanken auseinande­r, stellt immer wieder auch kritische Fragen. Und findet schließlic­h doch in den Radikalen eine neue „Familie“. Irgendwann schreibt er in einem Chat: „Ich bin bereit zu allem. Ich mache, was ihr wollt.“

Neue Heimat beim IS

Allein wie der Angeklagte übergangsl­os von seinem autoritäre­n Elternhaus zum „Islamische­n Staat“als innere Heimat und Referenzgr­öße wechselt, zeugt, laut Expertinne­n, von Unreife, weshalb sich alle Prozessbet­eiligten einig waren, nicht das Erwachsene­n-, sondern das Jugendrech­t anzuwenden.

Dennoch bleibt, so der Richter, nicht nur das Mordmerkma­l der Heimtücke, sondern auch jenes der Gemeingefä­hrlichkeit, weil ein Bombenatte­ntat eine brachiale Wirkung entfaltet hätte. Zwar beteuerte der Angeklagte, er habe die Sachen nur nach Dänemark bringen, aber keineswegs beim Anschlag mitmachen wollen. Das nahm ihm die Kammer aber nicht ab. „Er war zu 100 Prozent IS-gefärbt“, bekräftigt­e der Richter.

Wie viel Prozent davon geblieben sind, bleibt offen. Sein Vater hat ihn im Gefängnis besucht, der Kontakt zur Familie ist wieder eng. In seinem Schlusswor­t sagte er über sein Handeln: „Ich war auf dem falschen Weg. Wenn dieser Weg der richtige wäre, dann wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin.“

Während der Richter vorträgt, legt der 21-Jährige einmal die Stirn auf den Tisch, am Ende klopfen ihm sein Anwalt wie auch die Dolmetsche­rin beruhigend auf die Schulter. Über seinen Anwalt lässt er verlauten, eine Revision komme nicht infrage, er wolle die Strafe verbüßen. Zu wem oder was er sich in der Haft entwickelt, kann heute jedoch niemand sagen. Genauso, wie wohl niemand sagen kann, wie viele junge Flüchtling­e sich „isoliert im Feindeslan­d“fühlen.

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FOTO: DPA „Ich war auf dem falschen Weg“, beteuerte der Angeklagte vor dem Landgerich­t Ravensburg.

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