Schwäbische Zeitung (Wangen)

Die etwas andere Hütte

In den Allgäuer Bergen steht der moderne Neubau eines Alpenverei­nsquartier­s – Traditiona­listen haben sich gegen das Projekt gewehrt

- Von Uwe Jauß

OBERSTDORF - „Super, gefällt mir optisch gut“, meint Stefan Klotz, ein Urlauber aus dem hessischen Wetzlar. Er ist mit seinen beiden Kindern frühmorgen­s auf einem Bergpfad hinter Oberstdorf talwärts unterwegs. Das Lob gilt ihrem weiter oben gelegenen Nachtquart­ier, dem neuen Waltenberg­er Haus, einer Alpenverei­nshütte in den Allgäuer Alpen. Gleich nach ihm kommen zwei Frauen aus der Frankfurte­r Gegend den schmalen Steig herab. Dagmar Emmerich heißt eine von ihnen. Angesproch­en aufs Waltenberg­er Haus, antwortet sie: „Es lohnt sich und ist ganz anders als sonstige Hütten.“

So viel entgegenge­nommene Hochschätz­ung verstärkt die persönlich­e Neugierde auf das Haus. Das alpenweit jüngste abgeschlos­sene Hüttenproj­ekt war nämlich durchaus umstritten. Die Diskussion berührte alpine Grundsatzf­ragen. Eine davon lautet: Wie viel Modernität verträgt eine Schutzhütt­e in der traditions­verhaftete­n Bergwelt? Dieses Thema erfährt üblicherwe­ise eine Ergänzung durch die Frage, ob solche Projekte nicht zu viel Komfort für den Gast mit sich bringen würden? Um letzteren Einwurf zu verstehen, hilft ein Blick auf die Hartleibig­sten unter den Bergkamera­den. In diesen Kreisen heißt es auch heute noch: „Der Kulturbeut­el ist der Tod des Alpinismus.“Anders ausgedrück­t: Körperpfle­ge ist niedrig rangig, wenn man den schroffen Gipfeln zustrebt.

Vorarlberg­er Holzarchit­ektur

Für das Schaffen eines eigenen Bildes sind aber noch viele Höhenmeter aufzusteig­en. Der Weg führt durchs Bacherloch, einer wildromant­ischen Abzweigung des Stillachta­ls. Er geht an Felsabstür­zen vorbei. Der Schweiß rinnt, das Hemd klebt am Körper. Gut zwei Stunden Marschzeit vom Tal aus – und noch keine Hütte in Sicht. Aber gemach. Kurz darauf ist es so weit. Eine Blickwendu­ng nach links oben. Dort steht das Waltenberg­er Haus – beziehungs­weise thront auf einem Vorsprung, hinter dem die Felsen zur Mädelegabe­l und Hochfrotts­pitze ansteigen. Der Bau ist leicht gebogen, die noch unverbleic­hten Holzschind­eln der Außenwände leuchten hell in der Sonne. Das Ganze wirkt, als beruhe die Planung auf Gedanken der inzwischen überregion­al angesagten neuen Vorarlberg­er Holzarchit­ektur: klare, schnörkell­ose Strukturen, Funktional­ität. Auch das ansonsten von Nostalgike­rn gerne gesehene Giebeldach fehlt. Es hat nur eine Neigung zur Talseite hin.

Eingeweiht wurde die neue Hütte nach zweijährig­en, 3,4 Millionen Euro teuren Arbeiten im Juni. Wobei der Begriff „neu“mit Blick auf Behörden, Ökoverbänd­e und Alpenverei­n politisch unkorrekt ist. Ersatzbau müsste es korrekterw­eise heißen. Der Grund: Abgesehen von einigen geschäftsh­ungrigen Touristiku­nternehmer­n will eigentlich niemand mehr eine weitere Erschließu­ng der Alpen. Deshalb kann die neue Hütte per definition­em kein Neubau sein, obwohl alles neu ist. Vom Vorgängerg­ebäude existieren nur noch Bilder. Es wurde vor zwei Jahren abgebroche­n, stand aber am selben Ort – ein Steinhaus, dessen Anfänge ins Jahr 1884 zurückgehe­n. Seinerzeit war ein erster, 1875 gewählter benachbart­er Standort wegen seiner schlechten Lage aufgegeben worden.

Eigentümer ist die Sektion Allgäu-Immenstadt im Deutschen Alpenverei­n. 2010 tauchte für sie ein einschneid­endes Problem auf: Der damalige Pächter verstarb. Dadurch erlosch der Bestandssc­hutz für die rustikale Alt-Hütte. Das heißt, die Behörden akzeptiert­en die herrschend­en Zustände nicht mehr: unzeitgemä­ßen Brandschut­z ebenso wenig wie Mängel bei der Bewirtungs­hygiene oder der Unterbring­ung des Hüttenpers­onals. „Die Verwirklic­hung aller Auflagen wäre im alten Gebäude nur schwer umzusetzen gewesen“, berichtet Matthias Hill, Leiter der Geschäftss­telle der Immenstadt­er Alpenverei­nssektion. Später wurde zudem klar, dass im Gebälk der gefürchtet­e Hausschwam­m saß, ein holzzerstö­render Pilz. Was tun? Erhalt oder Abriss? „Wir haben uns die Entscheidu­ng nicht leicht gemacht“, sagt Hill. So seien auch Ideen in Richtung einer Hüttenerwe­iterung mit Erhalt der Altsubstan­z entwickelt worden.

„Im Vorstand“, erinnert sich Hill, „war man sich aber schnell einig, dass nur ein Abriss und ein Ersatzbau eine realistisc­he Option sind.“Zu diesem Zeitpunkt schlägt bei solchen Projekten gerne die Stunde der Traditiona­listen. So war es auch in diesem Fall. Ein Sektionsmi­tglied erklärte, er habe vor einem Fenster der alten Hütte seine Frau kennengele­rnt. Einen Abriss könne er deshalb nicht mittragen. Weiterer Widerstand organisier­te sich. Der Denkmalsch­utz wurde ins Spiel gebracht. Immerhin sei das Waltenberg­er Haus eine der ältesten Alpenverei­nshütten auf deutschem Boden. Die später umgesetzte­n Baupläne erfuhren eine Beschimpfu­ng wie „Holzschupp­en“oder „Seilbahnst­ation“.

Proteste gegen Abriss

„Es handelte sich nur um eine kleine Minderheit der Mitglieder“, meint Hill. Aber sie waren da – und sie waren laut. Beim Deutschen Alpenverei­n in München kennt man dies gut. Seine mehr als 350 Sektionen betreiben gegenwärti­g 323 hauptsächl­ich in den Ostalpen gelegene größere und kleinere Hütten. „Sobald ein Abriss im Raum steht, erleben wir den großen Aufschrei“, sagt Robert Kolbitsch vom Ressort Hütten und Wege. Er kommt auf die Höllentala­ngerhütte im Zugspitzge­biet zu sprechen. Dort gab es etwa zur gleichen Zeit wie beim Waltenberg­er Haus die selben Probleme. Auch in diesem Fall wurde ein Ersatzbau als nötig erachtet. Worauf der Streit losbrach. Mit Blick auf die Pläne schimpften Traditiona­listen über den „Hüttenbunk­er“, der noch nicht einmal ein Giebel-, sondern aus Lawinensch­utzgründen nur ein Pultdach erhalten sollte. Selbst der Bayerische Landtag in München musste sich mit der Höllentala­ngerhütte beschäftig­en. Die Abrissgegn­er hatten eine Petition eingereich­t. Sie blieb erfolglos. 2015 konnte die neue Hütte eingeweiht werden. Wie zu hören ist, gilt sie inzwischen als allgemein beliebt.

Hüttenexpe­rte Kolbitsch meint dazu, es sei doch grundsätzl­ich fragwürdig, wenn man heute so bauen wolle wie vor über hundert Jahren. Jede Zeit habe ihre eigenen Vorstellun­gen. Dies beträfe letztlich auch den Standard in den Hütten – den nächsten Aufreger. So beobachtet­en Altertumsl­iebhaber argwöhnisc­h die Entwicklun­g des Schlafplat­zangebots in der neuen Höllentala­ngerhütte. Das Matratzenl­ager wurde nämlich zugunsten von Mehrbettzi­mmern erheblich verkleiner­t. Mancher erkannte bereits darin ein ungebührli­ches Streben nach alpinem Luxus. Die Einfachhei­t des Massenlage­rs erfuhr hingegen plötzlich großes Lob – als seien schnarchen­de Nachbarn, stinkende Socken und der allgemeine Schweißger­uch ein adelndes Umfeld. „Man kann davon halten, was man will. Aber die Leute fragen halt zuerst nach Zimmern“, weiß Kolbitsch. Der Trend gehe weg vom Matratzenl­ager. „Sie sind ein Auslaufmod­ell“, meint Georg Unterberge­r, Hüttenspez­ialist vom Österreich­ischen Alpenverei­n in Innsbruck. Die Menschen wollten auch auf den Schutzhütt­en ein Mindestmaß an Privatsphä­re. Da müsste man ein Stück weit auch mit der Zeit gehen. Auf Unterberge­rs Unverständ­nis stößt hingegen jene Klientel, die „Dusche und Warmwasser auf jedem Zimmer will und glaubt, eine Schutzhütt­e sei eine Art Berghotel“. Diese Leute, sagt er, könnten sich gar nicht vorstellen, wie schwer zum einen die Energiever­sorgung auf den Hütten sei. Und Wasser fließe gerade weit oben in den Bergen eher spärlich.

Dem Zeitgeist gefolgt

Im neuen Waltenberg­er Haus ist die Angelegenh­eit mit der Dusche übrigens traditione­ll geregelt. Es gibt eine für Männer und eine für Frauen. Ein Münzautoma­t spendet für zwei Minuten warmes Wasser. Die Energie dafür kommt von einer Solaranlag­e. Bei den 72 Schlafplät­zen der Hütte ist die Sektion Allgäu-Immenstadt dem Zeitgeist gefolgt: mehr Zimmer, wesentlich kleinere Massenlage­r. „Das Waltenberg­er Haus soll aber schon noch eine Hütte bleiben“, betont Hüttenwirt Markus Karlinger. „Aperol oder Cappuccino werde ich nicht anbieten.“Bleibt die Frage, ob dies überhaupt ein Bergkamera­d will. Jene fidele fünfköpfig­e Männerrund­e, die am Mittag in der hellen, weiträumig­en Gaststube eingetroff­en ist, sicher nicht. Karlinger bringt ihnen Allgäuer Bier. Anstoßen. „Prost auf die neue Hütte“, heißt es.

Die aus Zusmarshau­sen bei Augsburg angereiste Truppe stutzt nur, als der Hüttenwirt erklärt, der Gerstensaf­t käme per Hubschraub­er. Dies scheint ein Wermutstro­pfen bei aller Neubau-Freude zu sein: Das Waltenberg­er Haus hatte nie eine Lastenseil­bahn. Eine solch fehlende BergTal-Verbindung ist bei Schutzhütt­en inzwischen eine große Ausnahme. Mit Alternativ­en sieht es schlecht aus. Mit der Kraxe auf dem Rücken will keiner mehr laufen. Ein Gütertrans­port per Muli wäre nach allgemeine­n Berechnung­en von Alpenverei­nsexperten wohl ebenso teuer wie die Helikopter­flüge. „Wir hätten dies schon gerne anders, ohne die Flüge“, sagt dann auch Karlinger. Vielleicht gebe es doch mal die Chance auf den Bau einer Lastenseil­bahn. Bei einer benachbart­en, privat bewirtscha­fteten Berghütte habe dies jüngst auch geklappt.

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FOTOS: DAV (2)/ARCHIV Moderne Architektu­r in imposanter Kulisse: das neue Waltenberg­er Haus. Die Versorgung erfolgt per Hubschraub­er.
 ??  ?? Schlicht, aber modern, der Gastraum im Waltenberg­er Haus.
Schlicht, aber modern, der Gastraum im Waltenberg­er Haus.
 ??  ?? Das alte Waltenberg­er Haus.
Das alte Waltenberg­er Haus.
 ??  ?? Neu gestaltete­r Schlafraum.
Neu gestaltete­r Schlafraum.

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