Die Seine und Notre-Dame gibt es nicht nur in Paris
Frankreichs berühmter Fluss mäandert in zahllosen Schleifen durch die Normandie
Der typische Gast hier freut sich auf die Pianobar und die hoteleigene Bibliothek. Natürlich schätzt er auch den unverstellten Blick auf die Seine, den er im „La Marina“in Caudebec-au-Caux geboten bekommt, egal ob er im Chambre Deluxe mit Dachterrasse residiert oder im Standardzimmer in der ersten Etage, wo die raumhohen Fenster beim Öffnen und Schließen stets ein wenig klemmen und knarzen. Der Balkon über dem belebten Quai ist handtuchbreit. Aber im Osten reicht das Panorama bis zur Pont de Brotonne, der 1977 erbauten gigantischen Schrägseilbrücke. Rechter Hand ein Flusskreuzfahrtschiff, das hier Halt macht auf dem Weg von Rouen nach Le Havre. Und am jenseitigen Ufer Wälder und Wiesen, so weit das Auge reicht.
Zeitreise im Museum
Man begegnet hier Menschen, weitgereist und weltgewandt, die gleichwohl zugeben, die Seine gedanklich und gefühlsmäßig noch nie woanders verortet zu haben als in Paris. Der mächtige Strom lässt sich Zeit auf seinem Weg zum Meer und mäandert in seinem Unterlauf in zahllosen Schleifen und Biegungen, gesäumt von Auenwäldern und Kalksteinklippen und vorbei an prächtigen Klöstern und Burgen. Ganz offiziell wurde das Land dafür mit dem etwas sperrigen Titel „Parc Naturel des Boucles de la Seine Normande“geadelt.
Caudebec-au-Caux galt lange als einer der schönsten Orte in der ganzen Normandie. Ein Brand im Jahr 1940 und schwere Luftangriffe gegen Ende des Krieges haben von der einstigen Perle des Seinetales und ihren pittoresken Fachwerkhäusern aber kaum etwas übrig gelassen. Heute wehen entlang der gepflegten Uferpromende französische, deutsche und englische Flaggen dicht nebeneinander. Aber das charakteristische Ortsbild gibt es nicht mehr. Einzig Notre-Dame ist verschont geblieben, eine Kirche im Stil der französischen Flamoyant-Gotik. Heinrich IV. hatte sie einmal als „hübscheste Kapelle“seines Königreichs bezeichnet. Vielleicht, weil sie trotz ihrer imposanten Größe weder Seitenschiff noch Querhaus hat.
Womöglich hätte dem König auch das neue Muséo Seine gefallen mit seinen architektonischen Finessen wie dem viergliedrigen Dach. Die naturund kulturhistorische Entwicklung der Flusslandschaft kann der Besucher hier mittels modernster Technik sehr schön nachvollziehen. Auf seiner virtuellen Reise flussabwärts an Bord der historischen „Gribane“begegnet er Römern und Wikingern und wird Zeuge, wie sich kleine Dörfer am Ufer in moderne Industriestädte verwandeln. Andererseits zeigt sich auch wieder: Das Museum 4.0 sieht schnell alt aus, sobald die Leute sich nur irgendwo im Halbdunkel hinsetzen können wie im Kino, um einen dieser flackernden Schwarz-Weiß-Filme anzuschauen. In einem Fall wird hier die mächtige Gezeitenwelle gezeigt, die sich früher mit dem Eintreffen der Flut den Fluss emporwälzte, was offenbar Unmengen Schaulustiger anlockte. Ungewiss bleibt, ob alle lebend davongekommen sind. Seit das Flussbett und die Uferlandschaft in den 1960er-Jahren reguliert worden sind, tritt das Phänomen nicht mehr auf. Eindringlich schildern an anderer Stelle Seineschiffer und Lotsen ihren harten Arbeitsalltag. Ihnen machen die tückischen Fallwinde entlang der Steilküsten beim Navigieren seit jeher zu schaffen.
Die Erde ist voller Schätze
Was die Römer betrifft, die hier schon zeitig auf den Plan getreten sind, so haben sie unweit von hier in Lillebonne ein gut erhaltenes Amphitheater als Freilichtmuseum hinterlassen, mittlerweile zwar etwas abseits des Stromes gelegen, aber mit tipptopp gepflegtem Rasen. Zeitweise hatten sie es notgedrungen auch als Festung gegen die Invasion der Barbaren genutzt. Die ursprünglich auf zehntausend Zuschauer ausgelegte Arena ist auch heute noch festivaltauglich. Der Ort selbst ist ein Traum für Archäologen, sagen in dem kleinen galloromanischen Museum die Hüter all der Schätze, die eine mehr als 2000 Jahre alte Welt wieder sichtbar werden lassen. Jedes Mal wenn in Lillebonne einer ein Haus baue, könne er ziemlich sicher sein, etwas Interessantes zu finden. Metalllöffel für Austern und Muscheln waren schon dabei, auch ein Ohrkratzer. Die ganz bedeutenden Funde sind aber in Rouen und im Pariser Louvre ausgestellt.
Auch an den Wikingern kommt hier keiner vorbei. Wo sie einmal auftauchten, ist hinterher freilich oft nichts mehr zu retten gewesen. Die Mönche vor allem können ein Lied davon singen, wie Bruder Magnier von der Benediktinerabtei Saint Wandrille, die im Jahr 856 zerstört worden war. Wie früher oder später fast ausnahmslos alle Klöster entlang der Seine, wo die wilden Männer mit ihren schnittigen Boten aufgetaucht waren. „Insgesamt 104 Jahre, bis 960, lebte hier kein Mensch mehr“, erzählt Bruder Magnier, der selbst seit über vierzig Jahren hier wohnt in einer Gemeinschaft von heute wieder 31 Mönchen. Dass es damals doch wieder aufwärtsging mit ihnen, war einem Arrangement von Frankenkönig Karl dem Einfältigen mit dem Wikinger Rollo zu verdanken, der gegen die Gewährung von Lehen seiner Taufe zustimmte und ab 912 als Herzog der Normandie Kirchen und Klöster wiederaufbauen ließ. Genug jedenfalls, um heute eine touristische „Route des Abbayes“damit zu bestücken. In Saint Wandrille kann man, das ist Bruder Magnier wichtig, nicht nur selbst gebrautes Bier und CDs mit gregorianischen Chorälen kaufen, sondern vor allem zur Stille finden.
Natürlich lädt dazu auch die Landschaft ein, mit einem Himmel, den man so noch nie gesehen hat. Zum Beispiel im Naturreservat Marais Vernier, wo sich die Seine in einer letzten Schleife windet, bevor sie ins Meer mündet. Obstbäume wachsen, wo die Menschen das Schwemmgebiet im 17. Jahrhundert urbar gemacht haben. Reetgedeckte Bauernhäuser mit filigranem Fachwerk stehen dazwischen wie gemalt. Aus ihrem First sprießt ein Kamm aus lila Schwertlilien. Weil sie das Stroh vor Wind und vor Austrocknung schützen, vor allem aber wohl der Schönheit wegen. Vielleicht weil sie im Frühsommer so herrlich mit dem blau blühenden Flachs harmonieren. Natürlich gibt es auch für die Bewunderer der alten Reetdachhäuser längst eine „Route des Chaumières“. Am alten Fährhafen, wo es jahrhundertelang geschäftig zuging, erwartet sie heute mit Vieux Port ein beschaulicher, zauberhafter Ort.
Wie eine typische normannische Kleinstadt vor dem Zweiten Weltkrieg ausgesehen hat, lässt Pont Audemer im Tal der Risle, fast schmerzlich erahnen. Einst war sie die Stadt der Gerber und Färber. Sie wird von einem Netz von Kanälen und Flussarmen durchzogen. Das hat ihr erwartungsgemäß den Beinamen „normannisches Venedig“eingebracht. Gottlob ist die Risle so klein, dass Heimsuchungen von Kreuzfahrtschiffen wie im italienischen Original nicht zu befürchten sind. Um 22 Uhr ist Ruhe. Dann läuten die Glocken zur Sperrstunde.
Weitere Informationen beim Normannischen Tourismusverband, Internet: www.normandie-urlaub.com
(deutschsprachige Webseite des Tourismusverbandes). Die Recherche wurde unterstützt von Atout France – der französischen Zentrale für Tourismus.