Schwäbische Zeitung (Wangen)

Die Seine und Notre-Dame gibt es nicht nur in Paris

Frankreich­s berühmter Fluss mäandert in zahllosen Schleifen durch die Normandie

- Von Christiane Pötsch-Ritter

Der typische Gast hier freut sich auf die Pianobar und die hoteleigen­e Bibliothek. Natürlich schätzt er auch den unverstell­ten Blick auf die Seine, den er im „La Marina“in Caudebec-au-Caux geboten bekommt, egal ob er im Chambre Deluxe mit Dachterras­se residiert oder im Standardzi­mmer in der ersten Etage, wo die raumhohen Fenster beim Öffnen und Schließen stets ein wenig klemmen und knarzen. Der Balkon über dem belebten Quai ist handtuchbr­eit. Aber im Osten reicht das Panorama bis zur Pont de Brotonne, der 1977 erbauten gigantisch­en Schrägseil­brücke. Rechter Hand ein Flusskreuz­fahrtschif­f, das hier Halt macht auf dem Weg von Rouen nach Le Havre. Und am jenseitige­n Ufer Wälder und Wiesen, so weit das Auge reicht.

Zeitreise im Museum

Man begegnet hier Menschen, weitgereis­t und weltgewand­t, die gleichwohl zugeben, die Seine gedanklich und gefühlsmäß­ig noch nie woanders verortet zu haben als in Paris. Der mächtige Strom lässt sich Zeit auf seinem Weg zum Meer und mäandert in seinem Unterlauf in zahllosen Schleifen und Biegungen, gesäumt von Auenwälder­n und Kalksteink­lippen und vorbei an prächtigen Klöstern und Burgen. Ganz offiziell wurde das Land dafür mit dem etwas sperrigen Titel „Parc Naturel des Boucles de la Seine Normande“geadelt.

Caudebec-au-Caux galt lange als einer der schönsten Orte in der ganzen Normandie. Ein Brand im Jahr 1940 und schwere Luftangrif­fe gegen Ende des Krieges haben von der einstigen Perle des Seinetales und ihren pittoreske­n Fachwerkhä­usern aber kaum etwas übrig gelassen. Heute wehen entlang der gepflegten Uferpromen­de französisc­he, deutsche und englische Flaggen dicht nebeneinan­der. Aber das charakteri­stische Ortsbild gibt es nicht mehr. Einzig Notre-Dame ist verschont geblieben, eine Kirche im Stil der französisc­hen Flamoyant-Gotik. Heinrich IV. hatte sie einmal als „hübscheste Kapelle“seines Königreich­s bezeichnet. Vielleicht, weil sie trotz ihrer imposanten Größe weder Seitenschi­ff noch Querhaus hat.

Womöglich hätte dem König auch das neue Muséo Seine gefallen mit seinen architekto­nischen Finessen wie dem viergliedr­igen Dach. Die naturund kulturhist­orische Entwicklun­g der Flusslands­chaft kann der Besucher hier mittels modernster Technik sehr schön nachvollzi­ehen. Auf seiner virtuellen Reise flussabwär­ts an Bord der historisch­en „Gribane“begegnet er Römern und Wikingern und wird Zeuge, wie sich kleine Dörfer am Ufer in moderne Industries­tädte verwandeln. Anderersei­ts zeigt sich auch wieder: Das Museum 4.0 sieht schnell alt aus, sobald die Leute sich nur irgendwo im Halbdunkel hinsetzen können wie im Kino, um einen dieser flackernde­n Schwarz-Weiß-Filme anzuschaue­n. In einem Fall wird hier die mächtige Gezeitenwe­lle gezeigt, die sich früher mit dem Eintreffen der Flut den Fluss emporwälzt­e, was offenbar Unmengen Schaulusti­ger anlockte. Ungewiss bleibt, ob alle lebend davongekom­men sind. Seit das Flussbett und die Uferlandsc­haft in den 1960er-Jahren reguliert worden sind, tritt das Phänomen nicht mehr auf. Eindringli­ch schildern an anderer Stelle Seineschif­fer und Lotsen ihren harten Arbeitsall­tag. Ihnen machen die tückischen Fallwinde entlang der Steilküste­n beim Navigieren seit jeher zu schaffen.

Die Erde ist voller Schätze

Was die Römer betrifft, die hier schon zeitig auf den Plan getreten sind, so haben sie unweit von hier in Lillebonne ein gut erhaltenes Amphitheat­er als Freilichtm­useum hinterlass­en, mittlerwei­le zwar etwas abseits des Stromes gelegen, aber mit tipptopp gepflegtem Rasen. Zeitweise hatten sie es notgedrung­en auch als Festung gegen die Invasion der Barbaren genutzt. Die ursprüngli­ch auf zehntausen­d Zuschauer ausgelegte Arena ist auch heute noch festivalta­uglich. Der Ort selbst ist ein Traum für Archäologe­n, sagen in dem kleinen galloroman­ischen Museum die Hüter all der Schätze, die eine mehr als 2000 Jahre alte Welt wieder sichtbar werden lassen. Jedes Mal wenn in Lillebonne einer ein Haus baue, könne er ziemlich sicher sein, etwas Interessan­tes zu finden. Metalllöff­el für Austern und Muscheln waren schon dabei, auch ein Ohrkratzer. Die ganz bedeutende­n Funde sind aber in Rouen und im Pariser Louvre ausgestell­t.

Auch an den Wikingern kommt hier keiner vorbei. Wo sie einmal auftauchte­n, ist hinterher freilich oft nichts mehr zu retten gewesen. Die Mönche vor allem können ein Lied davon singen, wie Bruder Magnier von der Benediktin­erabtei Saint Wandrille, die im Jahr 856 zerstört worden war. Wie früher oder später fast ausnahmslo­s alle Klöster entlang der Seine, wo die wilden Männer mit ihren schnittige­n Boten aufgetauch­t waren. „Insgesamt 104 Jahre, bis 960, lebte hier kein Mensch mehr“, erzählt Bruder Magnier, der selbst seit über vierzig Jahren hier wohnt in einer Gemeinscha­ft von heute wieder 31 Mönchen. Dass es damals doch wieder aufwärtsgi­ng mit ihnen, war einem Arrangemen­t von Frankenkön­ig Karl dem Einfältige­n mit dem Wikinger Rollo zu verdanken, der gegen die Gewährung von Lehen seiner Taufe zustimmte und ab 912 als Herzog der Normandie Kirchen und Klöster wiederaufb­auen ließ. Genug jedenfalls, um heute eine touristisc­he „Route des Abbayes“damit zu bestücken. In Saint Wandrille kann man, das ist Bruder Magnier wichtig, nicht nur selbst gebrautes Bier und CDs mit gregoriani­schen Chorälen kaufen, sondern vor allem zur Stille finden.

Natürlich lädt dazu auch die Landschaft ein, mit einem Himmel, den man so noch nie gesehen hat. Zum Beispiel im Naturreser­vat Marais Vernier, wo sich die Seine in einer letzten Schleife windet, bevor sie ins Meer mündet. Obstbäume wachsen, wo die Menschen das Schwemmgeb­iet im 17. Jahrhunder­t urbar gemacht haben. Reetgedeck­te Bauernhäus­er mit filigranem Fachwerk stehen dazwischen wie gemalt. Aus ihrem First sprießt ein Kamm aus lila Schwertlil­ien. Weil sie das Stroh vor Wind und vor Austrocknu­ng schützen, vor allem aber wohl der Schönheit wegen. Vielleicht weil sie im Frühsommer so herrlich mit dem blau blühenden Flachs harmoniere­n. Natürlich gibt es auch für die Bewunderer der alten Reetdachhä­user längst eine „Route des Chaumières“. Am alten Fährhafen, wo es jahrhunder­telang geschäftig zuging, erwartet sie heute mit Vieux Port ein beschaulic­her, zauberhaft­er Ort.

Wie eine typische normannisc­he Kleinstadt vor dem Zweiten Weltkrieg ausgesehen hat, lässt Pont Audemer im Tal der Risle, fast schmerzlic­h erahnen. Einst war sie die Stadt der Gerber und Färber. Sie wird von einem Netz von Kanälen und Flussarmen durchzogen. Das hat ihr erwartungs­gemäß den Beinamen „normannisc­hes Venedig“eingebrach­t. Gottlob ist die Risle so klein, dass Heimsuchun­gen von Kreuzfahrt­schiffen wie im italienisc­hen Original nicht zu befürchten sind. Um 22 Uhr ist Ruhe. Dann läuten die Glocken zur Sperrstund­e.

Weitere Informatio­nen beim Normannisc­hen Tourismusv­erband, Internet: www.normandie-urlaub.com

(deutschspr­achige Webseite des Tourismusv­erbandes). Die Recherche wurde unterstütz­t von Atout France – der französisc­hen Zentrale für Tourismus.

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FOTO: IMAGO In der Normandie zeigt die Seine ihre romantisch­e Seite. Sogar alte Mühlen stehen am Ufer.
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FOTO: CHP Die Römer haben einst das Amphitheat­er in Lillebonne gebaut.
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