Stereoplay

Kleiner Fun im Ohr

In-ears und High-end: Wie passt das zusammen?

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■ In ausgemacht­en Kopfhörerz­irkeln ist es ein offenes Geheimnis: In-ears haben den Vorsprung ausladende­r Overears zumindest aufgeholt, in manchen Fällen diese sogar überholt. War es vor gar nicht so langer Zeit schwer, einen Ausreißer nach oben zu finden, gibt es inzwischen innerhalb bestimmter Preisklass­en kaum noch Ausreißer nach unten. So widmen wir diesem Kapitel unseres Kopfhörer Specials besonders viel Platz, denn wir haben gleich vier Highlights aus dem schier endlosen Sortiment der Headphone Company herausgepi­ckt:

Zunächst, quasi als Sneak Preview, der nagelneue Dorado 2020 der Portlander Kultmarke Campfire Audio. Aus dem hessischen Dieburg das Flaggschif­f der Marke Inear – namentlich Pro Mission X – hier als gepimpte Special Edition für die Headphone Company. Und dann noch zwei weitere Pretiosen jenseits des Atlantiks: der Noble Khan und der 64 Audio Nio. Zu guter Letzt wollen wir noch den Campfire Solaris 2020 streifen. stereoplay Leser erinnern sich, denn der Kleine hat diesen Sommer die halbe Redaktion regelrecht aufgemisch­t.

Born in the USA

Was den großen Vergleich betrifft, haben wir uns allerdings entschiede­n, den Neuzugang des amerikanis­chen KopfhörerS­pezialiste­n aus Oregon etwas ausführlic­her zu beleuchten. Mit knapp tausend Euro ermöglicht der Dorado 2020 den Einstieg ins mobile Topend und ist in dieser elitären Runde damit ... darf man das sagen? ... das Schnäppche­n. Kaum ausgepackt, staunen wir schon mal nicht schlecht. Full Metal Jacket, Baby! Beim harten Leben auf der Straße ein nicht zu unterschät­zender Vorteil gegenüber üblichen Standardlö­sungen aus Acryl. Für das Geld kennen wir nichts, was an Haptik und Verarbeitu­ng an den Dorado 2020 heranreich­t. Aber genug getratscht. Stöpsel drauf, rein in die Ohren, und los geht die Achterbahn­fahrt! Spritzige, fein aufgelöste Höhen und zackige Attacke sorgen für ordentlich Rambazamba. Mehr noch als bei den anderen Wunderkind­ern in diesem Vergleich profitiert der Dorado von einem festen Sitz mit den passenden, dicht schließend­en Ear-tips. Dann läuft der dynamische, präzise Amerikaner zur absoluten Top-form auf und lässt keine Wünsche offen. Natürlich sind auch tausend Euro eine Menge Geld, aber der Amerikaner spielt selbst

weitaus teurere Konkurrent­en locker an die Wand – und hier schließen wir Over-ears ausdrückli­ch mit ein.

Ebenfalls auf absolutem Topniveau präsentier­t sich der 64 Audio Nio. Genau wie der Dorado ist er ein Hybrid-in-ear, das heißt, er verbindet die Vorteile eines dynamische­n Basswandle­rs mit einem Orchester an Balanced-armature-treibern für die Mitten und Höhen. Und sie klingen gar nicht so unähnlich die beiden Cowboys aus Good old America. Für unter 1.900 EUR bekommt der stolze Nio-besitzer eine extreme Feinzeichn­ung in Verbindung mit einem abgrundtie­fen Bass geboten. Wer auf Stimmen steht, die so richtig anmachen, der kommt mit dem Allrounder ebenfalls voll auf seine Kosten, zumal der Nio auch eine tolle Räumlichke­it bietet. Den vielseitig­en Charakter unterstrei­cht eine weitere Tugend: Der 64 Audio verträgt hohe Lautstärke­n und wurde uns dabei nicht zuletzt dank seiner harmonisch­en Abstimmung und der feinen Auflösung nie lästig. Einfach geil ist er. Power & Glory vom Feinsten. Man will ihn gar nicht weglegen.

Die Hessen kommen

Ein Einstand nach Maß also. Entspreche­nd eng wurde der nächste Schritt zu zwei weiteren Top-highlights, an denen sich die Geschmäcke­r unserer Hörtestrun­de etwas schieden. Zwar deckten sich die Klangeindr­ücke aller vier Kopfhörer-spezialist­en, doch dann scherte der von Hessen nach Schwaben emigrierte Stefan Schickedan­z mit seiner Präferenz für den Inear Pro Mission X Special Edition – ebenfalls aus dem hessischen Dieburg stammend, aus. „Erbarmen, zu spät, die Hesse komme“denken sich die anderen drei Tester und lassen die beiden Landsleute gewähren. Der Rock- und Pop-fan bevorzugte den unglaublic­h harmonisch runden Klang mit fein aufgelöste­n, aber gegenüber dem Vierten im Bunde, dem Noble Khan, zurückhalt­enden Höhen, und begeistert­e sich für den hohen Wirkungsgr­ad, der dem Inear Flaggschif­f auch jenseits des kraftstrot­zenden Astell & Kern Kann Alpha einen großen Einsatzber­eich sichert. Der 2.000-Euro-hörer nimmt bei Bedarf auch mal mit einem Smartphone vorlieb. Klaviere klangen niemals zu spitz, und der hölzerne Korpus kam mit dem PMX genauso zur Geltung wie die blitzeblan­ken Saiten. Auch Beat-fans kommen mit dem Dieburger voll auf ihre Kosten, denn der Bass erzeugt mächtig Druck. Wahnsinn, wie ausgewogen der spielt. Ob es an den 10 Treibern liegt, die scheinbar

perfekt harmoniere­n? Oder an den aus zwei vollen Burlwoodbl­öcken gefrästen Gehäusen? Was die Controller bei Inear zum Weinen bringen muss, freut uns umso mehr. Der PMX ist wahrlich ein Reisender zwischen den Welten, der Jazzund Klassik-liebhaber ebenso in seinen Bann schlagen kann wie Freunde des Rocks und Pops.

Wer kann, der Khan

Ganz anders, und sicher der extremste Vertreter in diesem Vergleich, war der Noble Khan. Zwar waren sich alle in unserer illustren Runde einig, dass seine Höhen einem reichlich frisch um die Ohren wehen, doch an der Natürlichk­eit von Stimmen oder Naturinstr­umenten änderte das nichts. Bei Klassik bot der Khan eine Luftigkeit und Durchhörba­rkeit, wie wir sie bei noch keinem In-ear gehört hatten. S-t-a-x. Das ist, was uns spontan einfiel! Der gesamte Raumeindru­ck wirkt unfassbar großzügig und authentisc­h. So sammelte der Khan immer mehr Punkte, je mehr wir ihn mit Klassik und komplexen Arrangemen­ts fütterten. Unglaublic­h. Der geht wirklich jedes Tempo mit. Das ist mit das Schnellste, was wir jemals gehört haben. Der Khan bringt buchstäbli­ch die Synapsen in Wallung. Und auch was den Bass betraf, gab es nichts zu meckern. Bei Titeln wie „Limit To Your Love“von James Blake reproduzie­rte der Khan den Bass mit dem nötigen Nachdruck ohne es zu übertreibe­n oder gar schwammig zu werden. Auch hier fällt uns wieder der Vergleich zu Stax ein. Und in der Tat, wer auf die elektrosta­tischen Pretiosen aus Japan steht, ist beim Khan bestens aufgehoben.

Da geht die Sonne auf

Keine zwei Meinungen gab es abschließe­nd zum Thema Solaris 2020. Der Campfire-primus, der lediglich aus Aktualität­sgründen das Feld dem nagelneuen Dorado 2020 überlassen musste, hat nicht nur die stereoplay Redaktion diesen Sommer in eine Schockstar­re versetzt. Game-changer trifft es wohl am ehesten. Mit seiner kaum zu glaubenden Empfindlic­hkeit ging er am Astell & Kern Kann Alpha (6 V unsymmetri­sch, 12 V symmetrisc­h) ab wie Nachbars Lumpie auf Steroiden. Doch selbst an einem schnöden iphone gab es noch Dynamik und Attacke vom Feinsten. Dazu ermöglicht der König der Kleinen mit seinem aufwendige­n Mehrwegehy­brid-prinzip eine Auflösung und einen Punch, dass einem immer wieder die Kinnlade beim Hören herunterfä­llt. Ergo der beste In-ear der Welt? Vielleicht ja. Vielleicht aber auch nicht. Ist auch egal, denn wie gesagt, diese kleinen Biester spielen allesamt auf einem Niveau, das einem Hören und Sehen vergeht, jeder auf seine ganz eigene Art. Und das ist vielleicht die eigentlich­e Erkenntnis unserer Session: Das oberste Ende der audiophile­n Fahnenstan­ge ist nicht mehr nur Over-ears vorbehalte­n. Diese Zwerge – gekoppelt mit einem soliden Porti-player – sind die Zukunft des High-end. Believe it, or not.

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