Die Leidenschaft des Melos
Es gibt eine Art musikalischer Leidenschaftsdarstellung, die – frei nach Karl Kraus – dem Wort Ausdruck einen Beigeschmack von Wahrheit verleiht: die Nuance des krampfhaft nach außen Gestülpten. Doch nichts von solch stehgeigerhaften Expressivitätsposen in der Klaviertrio-folge von Éric Le Sages brahminischer Kammermusik-serie: Selbst das ob seiner juvenil-melodischen Verve besonders gefährdete H-dur-trio erklingt hier ohne Schmacht- und Schmalzspur. Man kann natürlich das Klischeewort Clarté bemühen und liegt damit nicht falsch (namentlich bei Le Sages feinperligem Klavierspiel). Doch präziser ist der
Verweis aufs romantische Melos im originalen Sinn: die unverstellte Organik des (instrumentalen) Gesangs, die hier mit sonorer Kraft und Noblesse entfaltet wird. Dass die Interpreten zuvorderst der Kantabilität nachspüren, schließt die Leidenschaft des Con-brio-allegros nicht aus, sondern stimmt deren Tonfall erst an: aus der melodischen Reise über Modulationen und rhythmische Klippen heraus. Prickelnder Elan federt durchs Mendelssohn-nahe Scherzo, und dass im Finale die Marcato-nachschläge des Cellisten François Salque nach stampfendem Dampfross klingen, ist lange vor Honeggers „Pacific 231“ein legitimes Moment von Realismus. Überhaupt entsprechen die Interpreten der zunehmenden Bedeutung des Rhythmisch-metrischen und auch des Motorischen nicht nur durch Draufgängertum in Stretta-schlüssen, sondern durch Finessen wie die schwebende Gespanntheit der duolisch-triolischen Polymetrik im Kopfsatz des C-dur-trios. In Passagen wiederum wie der zweiten Variation des Andante con moto oder dem fahlen Scherzo des lakonischen c-moll-trios begeben sich Salque und der Geiger Pierre Fouchenneret auf hochsensible Wege in die intimsten Gesten eines inneren Dialogs. Le Sage steuert in großartiger Äquilibristik das Spiel der Intensitäten – etwas geerdet vom basslastigen Klang der Live-aufnahme.
B Records / Outhere LBM 029 (81:59, 2 CDS)