Thüringische Landeszeitung (Gera)
Nur eine traurige Liebesgeschichte ...
Arm, aber unglaublich sexy: Das Theater Nordhausen verblüfft in „La Bohème“mit leidenschaftlichen und hochtalentierten jungen Solisten
NORDHAUSEN. Eine Stadt ist in Aufruhr und feiert ihr junges Ensemble: Kaum haben Mimi und Rodolfo im ersten Aktfinale mit einem dreifachen „Amor!“ihre rettungslose Liebe besiegelt, da bricht schon tosender Beifall los. Szenenapplaus ist fortan obligatorisch, zum frenetischen Schlussjubel gellen Bravo-Rufe durch den Saal. All dies passiert in der claque-unverdächtigten zweiten Vorstellung von „La Bohème“. Mitten im Spätsommer und vor winterlicher Kulisse ist ein berauschender Opernfrühling erblüht.
Intendant Daniel Klajner hat das Solistenensemble mit hoch talentierten, hoch motivierten Nachwuchskräften aufgefrischt, und so gerät die erste Produktion seiner Ägide zur wahrhaftigen Demonstration dessen, worauf es bei Puccini am meisten ankommt: Schöngesang in Reinkultur – derart, dass man sich vom Sitznachbarn kneifen lässt, um verwundert zu realisieren: Ja, es ist in Nordhausen, der vermeintlichen Opernprovinz.
Zinzi Frohwein zum Beispiel. Die blutjunge Holländerin hat gerade 2015 ihren Abschluss an der Nationalen Opernakademie ihrer Heimat erlangt, und nun singt sie die todkranke Mimi mit einer Hingabe, als gäbe es für sie keinen anderen Lebenszweck. Mit ihrem runden, volltönenden Timbre kostet sie psychologisierende Farbvaleurs und lässt bereits eine Tendenz zum Hochdramatischen erkennen, die sie, sofern ihre Stimme Zeit zur allmählichen Reifung erhält, zu höchsten Weihen führen kann.
Oder Angelos Samartzis. Für den Griechen ist es das erste Festengagement und tatsächlich schon die zweite „Bohème“-Produktion. Aber so weiß er als Rodolfo, seine Kräfte gut einzuteilen. Er agiert souverän, ist absolut höhensicher und wärmt mit seiner Strahlkraft den Hörern die Herzen. Zwar gelingt ihm an diesem Abend nicht alles, doch ist seine Präsenz überragend.
Ähnliche Biografien weisen die beiden weiteren Nordhäuser Debütanten Manos Kia (Schaunard) und Leonor Amaral (als kesse Musetta) auf und reihen sich wie die etwas älter gedienten Yoontaek Rhim (Marcello) und Thomas Kohl (Colline) in Mim und Rodolfo feiern ihre endliche Liebe. diese ungemein spielfreudige, zumal durch die Korrepetition exzellent einstudierte Solistenriege mühelos ein. Foto: Roland Obst
Ihrer anrührenden, aufrichtigen und jederzeit kitschunverdächtigen Interpretation ordnet sich alles unter. Johannes Pell, Ex-Erfurter, nun Wuppertaler Kapellmeister, dirigiert als Gast sehr sängerfreundlich, bei den Tempi nimmt er fast zu viel Rücksicht. Er vermag die Spannkraft im Loh-Orchester zu halten, setzt delikate Rubati und zaubert dichte, farbreiche atmosphärische Stimmungen aus der Partitur. Dass die Banda zum Zapfenstreich im Quartier-Latin-Akt aus den Lautsprechern tönt, ist zu verschmerzen.
Die neue Operndirektorin Anette Leistenschneider hat die „Bohème“konventionell, doch mit handwerklicher Präzision stilecht in der Zeit der Murgerschen Romanvorlage inszeniert. Bei ihr ist auf der Bühne (Wolfgang Kurima Rauschning) immer was los, wo nötig, zeigt sie doppelbödigen Humor oder abgründige Tristesse, ohne je den Solisten, sobald stimmliche Akrobatik gefragt ist, auch noch eine szenische abzunötigen. Dazu setzt sie dezente motivische Hinweise: Die Botticelli-Venus, die Marcello im dritten Akt malt, trägt den Tod im Gesicht, und die Blutflecken fallen auf Mimis rotgesprenkeltem Kleid nur dem genauen Beobachter auf.
So ist die Nordhäuser „Bohème“bloß eine traurige Liebesgeschichte? Mitnichten, implizit ist es ein Statement: dass hier die Leidenschaft zählt, dass es wie in Puccinis/Murgers „Bohème“den Künstlern, so schlecht bezahlt sie auch sind, nichts anderes gilt als der Kunst. Chapeau! Weitere Vorstellungen: 1. u. 19. Okt., 6. u. 20. Nov., 23. Dez.