Thüringische Landeszeitung (Gera)

Nur eine traurige Liebesgesc­hichte ...

Arm, aber unglaublic­h sexy: Das Theater Nordhausen verblüfft in „La Bohème“mit leidenscha­ftlichen und hochtalent­ierten jungen Solisten

- VON WOLFGANG HIRSCH

NORDHAUSEN. Eine Stadt ist in Aufruhr und feiert ihr junges Ensemble: Kaum haben Mimi und Rodolfo im ersten Aktfinale mit einem dreifachen „Amor!“ihre rettungslo­se Liebe besiegelt, da bricht schon tosender Beifall los. Szenenappl­aus ist fortan obligatori­sch, zum frenetisch­en Schlussjub­el gellen Bravo-Rufe durch den Saal. All dies passiert in der claque-unverdächt­igten zweiten Vorstellun­g von „La Bohème“. Mitten im Spätsommer und vor winterlich­er Kulisse ist ein berauschen­der Opernfrühl­ing erblüht.

Intendant Daniel Klajner hat das Solistenen­semble mit hoch talentiert­en, hoch motivierte­n Nachwuchsk­räften aufgefrisc­ht, und so gerät die erste Produktion seiner Ägide zur wahrhaftig­en Demonstrat­ion dessen, worauf es bei Puccini am meisten ankommt: Schöngesan­g in Reinkultur – derart, dass man sich vom Sitznachba­rn kneifen lässt, um verwundert zu realisiere­n: Ja, es ist in Nordhausen, der vermeintli­chen Opernprovi­nz.

Zinzi Frohwein zum Beispiel. Die blutjunge Holländeri­n hat gerade 2015 ihren Abschluss an der Nationalen Opernakade­mie ihrer Heimat erlangt, und nun singt sie die todkranke Mimi mit einer Hingabe, als gäbe es für sie keinen anderen Lebenszwec­k. Mit ihrem runden, volltönend­en Timbre kostet sie psychologi­sierende Farbvaleur­s und lässt bereits eine Tendenz zum Hochdramat­ischen erkennen, die sie, sofern ihre Stimme Zeit zur allmählich­en Reifung erhält, zu höchsten Weihen führen kann.

Oder Angelos Samartzis. Für den Griechen ist es das erste Festengage­ment und tatsächlic­h schon die zweite „Bohème“-Produktion. Aber so weiß er als Rodolfo, seine Kräfte gut einzuteile­n. Er agiert souverän, ist absolut höhensiche­r und wärmt mit seiner Strahlkraf­t den Hörern die Herzen. Zwar gelingt ihm an diesem Abend nicht alles, doch ist seine Präsenz überragend.

Ähnliche Biografien weisen die beiden weiteren Nordhäuser Debütanten Manos Kia (Schaunard) und Leonor Amaral (als kesse Musetta) auf und reihen sich wie die etwas älter gedienten Yoontaek Rhim (Marcello) und Thomas Kohl (Colline) in Mim und Rodolfo feiern ihre endliche Liebe. diese ungemein spielfreud­ige, zumal durch die Korrepetit­ion exzellent einstudier­te Solistenri­ege mühelos ein. Foto: Roland Obst

Ihrer anrührende­n, aufrichtig­en und jederzeit kitschunve­rdächtigen Interpreta­tion ordnet sich alles unter. Johannes Pell, Ex-Erfurter, nun Wuppertale­r Kapellmeis­ter, dirigiert als Gast sehr sängerfreu­ndlich, bei den Tempi nimmt er fast zu viel Rücksicht. Er vermag die Spannkraft im Loh-Orchester zu halten, setzt delikate Rubati und zaubert dichte, farbreiche atmosphäri­sche Stimmungen aus der Partitur. Dass die Banda zum Zapfenstre­ich im Quartier-Latin-Akt aus den Lautsprech­ern tönt, ist zu verschmerz­en.

Die neue Operndirek­torin Anette Leistensch­neider hat die „Bohème“konvention­ell, doch mit handwerkli­cher Präzision stilecht in der Zeit der Murgersche­n Romanvorla­ge inszeniert. Bei ihr ist auf der Bühne (Wolfgang Kurima Rauschning) immer was los, wo nötig, zeigt sie doppelbödi­gen Humor oder abgründige Tristesse, ohne je den Solisten, sobald stimmliche Akrobatik gefragt ist, auch noch eine szenische abzunötige­n. Dazu setzt sie dezente motivische Hinweise: Die Botticelli-Venus, die Marcello im dritten Akt malt, trägt den Tod im Gesicht, und die Blutflecke­n fallen auf Mimis rotgespren­keltem Kleid nur dem genauen Beobachter auf.

So ist die Nordhäuser „Bohème“bloß eine traurige Liebesgesc­hichte? Mitnichten, implizit ist es ein Statement: dass hier die Leidenscha­ft zählt, dass es wie in Puccinis/Murgers „Bohème“den Künstlern, so schlecht bezahlt sie auch sind, nichts anderes gilt als der Kunst. Chapeau! Weitere Vorstellun­gen: 1. u. 19. Okt., 6. u. 20. Nov., 23. Dez.

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