Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
Alltag im Ausnahmezustand
Eine Familie mit zwei behinderten Kindern wartet seit zwei Jahren, dass ihnen ihre Pflegekasse eine Assistenz ermöglicht
Weberstedt..
Volkmar Lubian schiebt den Rollstuhl seines Sohnes an den Tisch. Patrick ist 21 und kam mit einer Behinderung zur Welt. Er kann nicht sprechen, nicht allein essen und trinken, nicht laufen, leidet an Epilepsie. Die Ärzte fassen es als Masa-Syndrom zusammen, genetische Ursachen gelten als möglich.
Bianca Lubian, die Mutter, stellt Patricks Trinkflasche auf den Tisch. „Manuel, kommst du auch?“Manuel ist 19 und der jüngere Sohn. Er wurde mit der gleichen Behinderung wie sein Bruder geboren, sie ist nur viel schwächer ausgeprägt. Volkmar Lubian, der Vater, breitet einen Packen Papier auf dem Tisch aus. Flyer, Visitenkarten, Briefe. Das Ehepaar sitzt sich gegenüber, sie wirken beide müde.
Am Morgen erst waren sie mit Patrick in Jena, ein Termin in der Uniklinik, wieder einmal. Seit sie das Auto mit der Spezialausstattung für den Rollstuhl verkaufen mussten wegen der Werkstattrechnungen, müssen sie für jeden Arzttermin einen Krankentransport bestellen. Dazu Notfallmedikamente, Ersatzkleidung, Spezialtasse - mit Patrick fährt man nicht eben mal so los. Als sie das Auto noch hatten, war es einfacher.
Noch so eine Baustelle, aber um die geht es jetzt nicht. Wir sind wegen der Sache mit der Krankenkasse verabredet, dem persönlichen Budget. Menschen mit Behinderung können es erhalten, eine monatliche Summe, die sie einsetzen können um ihren Alltag zu erleichtern. Selbstbestimmt, nach eigenen Prioritäten, zum Beispiel um eine Assistenz zu bezahlen.
Für Patrick, damit die Eltern wenigstens ab und zu Luft holen können. Ausgehen, ein Spaziergang, eine Geburtstagsfeier bei Freunden, wann war das zum letzten Mal möglich? Bianca Lubian lächelt nur resigniert. Obwohl. Da war doch dieser Sonntag, als beide Söhne mit Betreuern unterwegs waren. „Wir sind essen gegangen, nur wir zwei, ganz spontan. Wann das war? Im Mai, vor einem Jahr.“
Und Manuel braucht eine Hilfe, weil er bei aller Sorge um Patrick so oft hintenansteht. Die Söhne besuchen eine Förderschule in der Nachbarschaft, aber die Nachmittage sind dann lang. „Einmal in der Woche geht Manuel zum Reiten, ein therapeutisches Angebot, es tut ihm gut“, sagt die Mutter. Das ist möglich, weil das zuständige Sozialamt in Mühlhausen unkompliziert für eine Begleitung sorgt.
Doch die anderen Nachmittage bleiben leer. Radfahren, oder mal ins Kino gehen – schwierig. Bianca Lubian beschreibt es so: „Kaum hast du dich auf den Weg gemacht, kommt ein Anruf von zu Hause: Patrick hat einen epileptischen Anfall. Dann musst du so schnell wie möglich nach Hause, weil einer allein nicht klarkommt mit Patricks Versorgung.“Sie haben das schon so oft erlebt.
Im Mai 2015 hatten sie beim Sozialamt das persönliche Budget für die Söhne beantragt. Das Amt hat es weitergeleitet an die Pflegekasse, die ist in Bayern ansässig. Ein erster Gesprächsversuch des Amtes, erfuhren sie im September, sei leider gescheitert, weil niemand von der Pflegekasse kommen konnte.
Es gab noch einige Nachfragen, dann passierte erst einmal nichts. Im August vergangenen Jahres – endlich – traf man sich bei den Lubians zu einem Gespräch. Drei Leute von der Kasse, zwei vom Sozialamt. Man habe viel geredet, vor allem über Patrick, er brauche eine Pflegefachkraft, hieß es. „Wir wollen aber keine häusliche Krankenpflege, sondern eine Assistenz“, sagte der Vater. Kontakt zu einem Verein in Jena, der das leisten kann, hatte er schon aufgenommen.
Nach dem Gespräch geschah wieder lange nichts. Ein Gesprächsprotokoll, wie von der Kasse versprochen, bekamen sie auch nicht.
Stattdessen kam ein weiterer Brief von der Kasse, die ein Schreiben der Hausärztin we- gen der Intensivpflege für Patrick anmahnt. Sie haben das in die Wege geleitet, das war im März dieses Jahres.
Inzwischen sind zwei Jahre vergangen. „Die lassen“, sagt Volkmar Lubian, „uns hängen.“Es ist ja nicht das erste Mal. Das neue Pflegebett für Patrick, der Deckenlift, der Rollstuhl. Sie haben sich jedes Mal mit der Krankenkasse lange Briefeschlachten geliefert. Gutachten, Anträge, neue Gutachten. Sogar einen Anwalt hatten sie damals eingeschaltet.
Vor dem Fenster blüht im Garten der Frühling. Mäuerchen, Beete, Wege, die Lubians haben ihn mit viel Hingabe zum Detail angelegt. Ein winziges Stück Freiheit in Rufweite. Die Welt ist klein für die Familie.
Jetzt spricht Volkmar Lubian doch noch von der Autofrage. Von kaputten Zylindern, der defekten Dieselpumpen, von vierstelligen Werkstattrechnungen, die sie nicht bezahlen konnten und deshalb das Auto verkaufen mussten. Erzählt von seinem Arbeitsunfall, den er vor Jahren hatte, davon dass er jetzt zu Hause ist mit Hartz IV. Seine Frau hatte in einem Betrieb für Tiefkühlfrost gearbeitet, seit er dicht gemacht hat, ist auch sie zu Hause. Er sagt, er sei ganz froh darüber. Zu zweit ist es einfacher mit Patrick. Er spricht von den Aktenordnern im Arbeitszimmer, die voll sind mit Briefwechsel, Gutachten und Verordnungen. Davon, wie er einmal in einem Beamtenbüro wütend gesagt hat: „Seien Sie froh, dass Sie nicht unsere Probleme haben.“
Er redet schnell, verstrickt sich in Details, weil im Alltag der Familie jedes Detail ein Berg ist, über den sie drüber müssen, und weil jedes Detail wieder neue Probleme hinter sich herzieht.
Nein, sie sind nicht müde. Sie sind erschöpft. Eine Familie, die seit der Geburt ihres ersten Kindes im Ausnahmezustand lebt.
Eine Familie, der eine Krankenkasse doch schnelle und unbürokratische Hilfe leisten müsste. Der stattdessen vermittelt wird, dass sie alles, was ihr zusteht an Hilfen, einfordern und durchboxen muss.
Die Lubians sind in dieser Frage kein Einzelfall. Vom neuen Rollstuhl bis zur Assistenz – es gibt reichlich Beispiele, wie Betroffenen solche Hilfen zähe Kämpfe mit ihren Kassen kosten, weil die zur Wirtschaftlichkeit gezwungen sind. Beim Sozialverband VdK spricht man von einem Fehler im System.
Da haben sie wohl recht.
Ein Büro voller Aktenordner