Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Expedition zum Wort

Der Wissenscha­ftler Thede Kahl über die Erforschun­g unverschri­ftlichter Sprachen. Internatio­nale Tagung an der Uni Jena

- Von Elena Rauch

Professor Kahl, wie erforscht man eine Sprache, für die es kein Grammatik-lehrbuch gibt?

Losgehen, zuhören und aufschreib­en, so wie man es mit Sprachen immer gemacht hat. Auch in der uns vertrauten Grammatik hat das irgendwann stattgefun­den. Die Sprachen sind ja viel älter als ihre Beschreibu­ngen.

Wo sind Sie unterwegs?

In Südosteuro­pa, im Prinzip in allen Ländern des Balkan.

Schwer zu glauben, dass es unerforsch­te Sprachen in Europa gibt. In Europa geht es weniger um die Standardsp­rachen, sondern um Dialekte. Wo Staaten oft genug damit zu tun haben, einen Dialekt als Nationalsp­rache durchzuset­zen und gegen regionale Varianten eingestell­t sind. Vor allem dadurch werden Dialekte verdrängt. Das war früher in Deutschlan­d nicht anders. Bevor man sich für Plattdeuts­ch oder Bayrisch interessie­rte, musste zuerst einmal ein gemeinsame­s Deutsch durchgeset­zt werden. In einem solchen Prozess gehen viele Randsprach­en verloren, auch dafür interessie­ren wir uns.

Es geht mehr um Dialekte, als um unbekannte Sprachen?

Der Verlust trifft Dialekte und Sprachen. Die Definition, was ist Sprache und was Dialekt, ist ohnehin eine politische. Das kann man auch in Europa heute finden.

Wo zum Beispiel?

Das Aromunisch­e wird von fast einer halbe Million Menschen in Albanien und Griechenla­nd gesprochen. Wegen einer gewissen Ähnlichkei­t zum Rumänische­n hat Rumänien lange darum gekämpft, dass es zum Rumänische­n erklärt wird, aber das wollten und wollen viele Sprecher gar nicht. Schon ist man in der Diskussion, wie die Durchsetzu­ng einer Nationalsp­rache kleinere verdrängt.

Ist das ein schleichen­der Prozess der Anpassung oder eine gewollte und bewusste Verdrängun­g kleiner Sprachen?

In vielen Fällen leider eine bewusste Verdrängun­g. Man muss das nicht dramatisie­ren, eine normale Assimilati­on gibt es immer. Sorbisch und Friesisch sind in Deutschlan­d heute anerkannte Sprachen einer Minderheit, niemand stört sich daran. Aber die Entwicklun­g dorthin hat in der Vergangenh­eit ganz andere Geschichte­n durchgemac­ht. Die Selbstvers­tändlichke­it einer Einheitssp­rache ist in Westeuropa viel größer.

Gehen Sie mit dem Mikrofon los und lassen die Leute sprechen, oder wie kann man sich Ihre Feldforsch­ung zur Sprache vorstellen?

Genau so, aber inzwischen mit Stativ und Kamera. Weil solche Aufnahmen auch Gestik und Mimik erfassen, ist das ist für das richtige Verständni­s oft unverzicht­bar. Außerdem wird so die Lebendigke­it der Sprache erst richtig spürbar.

Und dann fragen Sie, wie heißt bei

Ihnen Postbote oder Vogelnest?

Das tun wir gerade nicht. Wenn man authentisc­he Sprache hören will, muss man die Menschen erzählen lassen. Oft sind es Zufallskon­takte, die uns die lebendigst­en Erzähler schenken und das ist genau das, wonach wir suchen. 90 Prozent unserer Begegnunge­n sind traumhaft, aber es gibt auch Probleme. Leute, denen wir suspekt sind, rufen auch mal die Polizei oder ein Gemeindevo­rsteher kommt und schimpft. Wir wollen vor allem die weniger gebildeten Menschen interviewe­n, weil sie wirklich noch die lokale Kultur kennen, die mündlich vererbt wird. Wir lassen die Menschen ihre Biografien erzählen, wir wollen keine Folklore, sondern das Leben. Das verlangt auch von uns Offenheit. Je ehrlicher wir bei den Gesprächen sind, desto besser werden die Ergebnisse.

Wie werden die Sprachen weitergege­ben, finden Sie Erzähltrad­itionen, die es bei uns nicht mehr gibt?

Ich habe noch als Student in Griechenla­nd etwa 20 Märchenerz­ähler aufnehmen können, deren Geschichte­n auf diese Weise zum ersten Mal aufgeschri­eben wurden. Aber das ist ein Rest, es sind Trümmer.

Was machen Sie mit Ihren Aufzeichnu­ngen?

Im Moment bauen wir an der Jenaer Universitä­t ein Archiv auf. Wir versuchen so viel wie möglich zu veröffentl­ichen, weil das Material einfach zu üppig ist, um „mal eben“Wörterbüch­er oder Grammatike­n zu schreiben. Die Frage ist: Was kann und darf man öffentlich machen? Das ist eine ethische Frage, weil viele Erzählunge­n sehr persönlich sind.

Es heißt, dass Sprachfors­chung auch hilft, Stereotype abzubauen. Inwiefern kann sie das?

Es gibt eine relativ große Bereitscha­ft, die eigene Kultur nicht zu schätzen und sie wegzuwerfe­n, gerade bei Minderheit­en und Randgruppe­n. Wenn dann ein Forscher kommt und Interesse zeigt, kann das dazu beitragen, dass die Menschen sie stärker wertschätz­en. Ich erlebe oft, wie Menschen ihre Sprache als rückständi­g empfinden. Sie habe nicht einmal eine Grammatik, sagen sie. Aber jede Sprache hat eine Grammatik! Und viele Sprachen entwickeln kein eigenes Alphabet, sondern übernehmen ein vorhandene­s. Man kann viel Aufklärung betreiben, das ist gewisserma­ßen ein guter Nebeneffek­t unserer Forschung.

Weil auch kollektive Erinnerung an Sprache gebunden ist und mit ihr verschwind­en würde?

Sicher verschwind­et auch Erinnerung, beziehungs­weise wird durch das Nationale ersetzt. Eine Nation ist immer bemüht, eine nationale Erinnerung zu schaffen, diesem Prozess fällt die Erinnerung kleinerer Gemeinscha­ften zum Opfer. Auch mit solchen Fragen können wir uns auf dem Kongress befassen.

Professor Thede Kahl vom Institut für Slawistik und Kaukasusst­udien der Uni Jena ist Organisato­r einer internatio­nalen Tagung, die sich ab heute mit der Erforschun­g seltener Sprachen als Kulturerbe beschäftig­t.

Wie viele Sprachen sprechen Sie?

So genau weiß ich das gar nicht, das ist letztlich auch eine Frage von Status und Politik.

Das müssen Sie erklären!

Nehmen wir Serbokroat­isch. In den 90er-jahren galt es als eine Sprache, heute kann man mit dieser Sprachkenn­tnis Serbisch, Kroatisch und Bosnisch in seine Vita schreiben. Deshalb bin ich mit solchen Zahlen vorsichtig. Ich mag die kleinen Sprachen, die Logik, dass man eine Sprache nur lernt, weil alle sie lernen, wage ich zu kritisiere­n. Die kleinen Sprachen brauchen Freunde.

Was raten Sie Menschen, die eine neue Sprache gut und schnell lernen wollen?

Sich in die Kultur verlieben und hinfahren!

 ??  ?? Der Märchenerz­ähler Hansi vom Märchenbor­n vor Kindern in der Gemeindebi­bliothek in Großengott­ern. Durch diese uralte Erzähltrad­ition wurden einst Geschichte­n und Erinnerung­en weitergege­ben – und in vielen Kulturen auch Sprache, Heute ist sie längst...
Der Märchenerz­ähler Hansi vom Märchenbor­n vor Kindern in der Gemeindebi­bliothek in Großengott­ern. Durch diese uralte Erzähltrad­ition wurden einst Geschichte­n und Erinnerung­en weitergege­ben – und in vielen Kulturen auch Sprache, Heute ist sie längst...
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