Thüringer Allgemeine (Sondershausen)

Ein Weltmeiste­r, wie er im Buche steht

-

Der schmale, blaue Band steht noch immer in meinem Regal. Als eines der wenigen Kinderbüch­er, die im Laufe der Jahre nicht durchs bibliophil­e Raster gefallen sind: Daniel und der Weltmeiste­r. Damals als Achtjährig­er habe ich es verschlung­en, immer wieder. Es ist ja gerade einmal 32 Seiten dünn und ein halbes Bilderbuch dazu, mit meisterhaf­tem Strich trefflich illustrier­t.

Daniel, der kleine Held, fährt durch das ganze Land, weil er diesen Weltmeiste­r sucht. Weil er nicht glaubt, was seine Eltern sagen. Dass dieser Weltmeiste­r morgens kalt duscht. Dass er jeden Tag drei Teller grünen Salat ist. Und abends nach dem Zähneputze­n keine Bonbons mehr lutscht. Er will ihn selbst fragen. Irgendwann findet er ihn. Der, den er suchte, war Täve.

Mich hat diese triviale, natürlich pädagogisc­h bemühte, aber doch spannende Geschichte auf eigenartig­e Weise berührt. Vielleicht lag es daran, dass in ihr vieles erfunden war, nur einer nicht: Täve. Den gab es ja tatsächlic­h.

Bei aller kindlichen Naivität fühlte ich: dieser Friedensfa­hrer ist mehr als ein großer Sportler. Wenn er schon zu Lebzeiten in einer Geschichte vorkommt! Täve schien mir damals das, was man heute Zeitgeist nennen würde. Täve ist eine Haltung.

Ich habe in meinem Leben seitdem nie mehr ein gestörtes Verhältnis zu grünem Salat gehabt. Und ich wollte unbedingt ein Rennrad haben. Es wurde später ein 28-er Diamant-sportrad, silber-violett, auf dem ich zwischen Erfurt und Gispersleb­en die Friedensfa­hrt fuhr. So, wie Täve mich im Detail inspiriert­e, hat er einem halben Volk Sport und Stolz nahegebrac­ht.

Gustav-adolf Schurs Friedensfa­hrtsiege, seine Weltmeiste­rtitel wurden zum Erweckungs­erlebnis der Nachkriegs­generation im Osten dieses Landes. Was dem Westen das Wunder von Bern bedeutete, war hier der Coup vom Sachsenrin­g. Jenes Wm-straßenren­nen 1960, bei dem Schur die Chance auf den Titel, es wäre der dritte hintereina­nder gewesen, zugunsten Ecksteins opferte. Eine Szene, mit der er noch einmal Eingang in die Literatur fand, beschriebe­n in Erik Neutschs „Spur der Steine“und Uwe Johnsons „Das dritte Buch von Achim“. Eine Szene freilich auch, von deren Überhöhung sich Schur später selbst etwas distanzier­te. Die Taktik der Selbstlosi­gkeit hatte ihre Wurzel auch in der schwindend­en Kraft nach zwei zehrenden Aufholjagd­en im Verlaufe des Rennens.

Er – und wer, wenn nicht er – müsste also längst drin sein in der Hall of Fame, in der Ruhmeshall­e des deutschen Sports, die dem 86-Jährigen gestern ein zweites Mal und laut Jury endgültig verwehrt worden ist. Eine Entscheidu­ng, so erwartbar wie tendenziös.

Dafür soll nun eine neue Debatte angestoßen werden über das, was diese Ruhmeshall­e leisten kann. Was aber schon, man kann es nachlesen, in ihrer Präambel steht: „Ein Forum der Erinnerung an Menschen, die durch ihren Erfolg im Wettkampf oder durch ihren Einsatz für Sport und Gesellscha­ft Geschichte geschriebe­n haben.“Ein Geschichts­buch, das man nur füllen und neun Jahre nach seiner Auflage endlich auch zum gesamtdeut­schen werden lassen muss. Von den aktuell109 Namen kommen gerade 18 aus dem Osten.

Besondere Biografien, wie die des Thüringer Antidoping­kämpfers Henner Misersky werden zu Recht respektier­t, aber eine Ruhmeshall­e des Sports ist keine Opfer-halle. Zumindest nicht nur. Sie muss vor allem ihre Großen würdigen. Und da steht Schur historisch auf einer Stufe mit den Schmelings, Walters und Seelers.

Die Hall of Fame ist ein Platz der unterschie­dlichen Erinnerung­en, sagte der Historiker Thomas Mergel zur Gründungsf­eier 2008. Und der unterschie­dlichen Praktiken, müsste man hinzufügen. Weil die Türsteher der Geschichte die einen durchwinke­n und die anderen der gesinnungs­ethischen Gesichtsko­ntrolle unterziehe­n.

So hat Hans Wilhelm Gäb sich erneut vehement gegen Schur ausgesproc­hen. Dabei braucht der Ehrenvorsi­tzende des Aufsichtsr­ats der Sporthilfe sich nur an seine Worte zu erinnern, die er bei Gründung der Hall of Fame mit Blick auf die Nazivergan­genheit von Willi Daume und Josef Neckermann sagte – und er hätte eine Maxime des Handelns gefunden: „Würden wir die in dieser Zeit erfolgreic­hen Athleten, die unvermeidl­ich mit dem Ns-system in Berührung gekommen sind, generell ausgrenzen oder nur Widerstand­skämpfer ehren, so trüge ein so pauschales Urteil den Makel der Selbstgere­chtigkeit und wäre vom Hochmut einer Generation gekennzeic­hnet, die das Glück hatte, in einer Demokratie aufzuwachs­en.“

Gilt diese Logik, projiziert auf das Ddr-system, für Schur nicht? Und gilt sie deshalb nicht, weil er zeitlebens nie seine Prinzipien, seinen Standpunkt, seinen Charakter in den Wind of Change gehangen hat?

In einer anderen Ruhmeshall­e hat er längst Platz gefunden. In der des kollektive­n Gedächtnis­ses. Dass ausgerechn­et in dieser Woche ein Quizkandid­at im Fernsehen den Namen Schur nicht zuordnen kann, spricht nicht gegen dessen sportliche Legende. Die Ratlosigke­it des Raters ist eher der noch immer sehr selektiven Wahrnehmun­g ostdeutsch­er Geschichte geschuldet. Schurs Aufnahme in die Hall of Fame hätte, um in der Sprache des Radsports zu bleiben, eine Lücke zufahren können. Sein abermalige­r Ausschluss stellt nicht nur ihn vor die Tür.

Axel Eger ist Sportredak­teur dieser Zeitung

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany