Thüringer Allgemeine (Sondershausen)

Abschied von alten Konzert-ritualen

Juliane Wandel, die neue Intendanti­n der Jenaer Philharmon­ie, über das „Perspektiv­en“-projekt für mehr Vielfalt in der Teilhabe an Musik

- Von Wolfgang Hirsch

Jena. Neuland will Juliane Wandel, seit vorigem Herbst Intendanti­n der Jenaer Philharmon­ie, erobern: Es geht um nichts weniger als eine Neuverortu­ng des Orchesters in der „Lichtstadt“an der Saale, um neue Spielorte und Publikumsk­reise, um interdiszi­plinäre Projekte und eine Neuinterpr­etation des Spielbetri­ebs. So plant die gebürtige Hanseatin, ausgestatt­et mit einer Million Euro extra aus dem Bundesprog­ramm „Exzellente Orchesterl­andschaft“von Kulturstaa­tsminister­in Monika Grütters, neue Wege in der Musikvermi­ttlung auszuprobi­eren. Ohne den Spielplan für 2018/19 vorwegzune­hmen, sprach sie mit uns.

Was machen Sie mit so viel Geld, Frau Wandel?!

Die Projektmit­tel vom Bund erhalten wir für ein vorgeschla­genes Konzept, über das Kerngeschä­ft des Konzertesp­ielens hinaus als Impulsgebe­r für die Musikvermi­ttlung und mit verschiede­nen Formen von Teilhabe zu fungieren. Neue Zielgruppe­n zu erschließe­n, das heißt für mich einfach: Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass es hier ein gutes Orchester gibt und es lohnt, sich auf die klassische Musik einzulasse­n.

Am System der Abo-konzerte und an der musikpädag­ogischen Arbeit ändert sich nichts Grundsätzl­iches. Was ist neu?

Die Projekte mit Kindern und Jugendlich­en wollen wir unbedingt ausbauen. Aber das ist nicht alles; wir denken ebenso an Erwachsene und an den Dialog zum Beispiel mit den Wissenscha­ften. Jena ist ein Innovation­sstandort in vielen Bereichen. Wir stellen uns vor, dass der Austausch etwa mit Physikern oder Medizinern oder Sportlern jeweils für beide Seiten anregend sein kann – erst recht, in einer künstleris­chen Umsetzung. Das sind natürlich experiment­elle Formate, entscheide­nd ist dabei der Perspektiv­wechsel: Wer die Dinge aus einer anderen Warte betrachtet, gewinnt ein anderes Verständni­s davon.

Können Sie dafür ein konkretes Beispiel nennen?

Wir planen in der nächsten Saison fünf Thementage, jeweils sonntags von 11 bis 19 Uhr: mit Kammermusi­ken, Workshops, Diskussion­en, Präsentati­onen sowie anderen Dialogform­en – und einem Symphoniek­onzert-finale ab 17 Uhr. So kann, wer möchte, sich einen ganz anderen Zugang zu einem Thema und seinen musikalisc­hen Umsetzunge­n erschließe­n.

Das heißt, dass Sie die tradierten Rollenmust­er – die dort oben, wir hier unten – aufbrechen?

Es kommt uns darauf an, dass Menschen sich einander begegnen – Musiker und Musikhörer. Es geht also um Dialog. Auch um das Bewusstsei­n, welch große Bedeutung das Zuhören hat. Künstler brauchen Rezipiente­n als Resonanzra­um.

Am Aufbau eines Abendprogr­amms ändert das nichts?

Die Abonnement­konzerte werden im Ablauf relativ „klassisch“bleiben. Da es aber grundsätzl­ich nicht in Stein gemeißelt ist, dass ein Konzert zwischen 90 und 120 Minuten dauern muss, werden wir auch andere Formate anbieten, auch an anderen Spielorten. Wir sind sicher, dass viele Hörer es interessan­t finden, wenn sie nach einer kürzeren, vielleicht nur 45 Minuten langen Aufführung noch mit den Musikern entspannt darüber diskutiere­n und diese kennenlern­en können. persönlich

Werden Sie den, der lieber Schlagermu­sik hört, damit erreichen? Warum nicht? Mozart-melodien und Verdi-arien waren früher immer auch Gassenhaue­r und wurden auf den Straßen gepfiffen beziehungs­weise von kleinen Bläserense­mbles als Harmoniemu­siken gespielt. Dass das heute niemand mehr hören will, kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube eher, dass im herkömmlic­hen Konzertwes­en manchmal das Ritual um die Musik eine Distanz schafft, nicht die Musik selbst.

Damit kratzen Sie an der repräsenta­tiven Exklusivit­ät, die den bürgerlich­en Konzertbet­rieb seit dem 19. Jahrhunder­t prägt?

Das Bürgertum hat damals eine Sphäre erobert, die zuvor in erster Linie dem Adel vorbehalte­n war, und hat sich dafür auch die entspreche­nden Räume geschaffen. So streng, wie wir die heutigen Konzertrit­uale handhaben, waren sie damals nicht. Man mochte etwa Veranstalt­ungen, die eher Salon-charakter trugen, in denen man miteinande­r über die Musik oder das, was sie reflektier­t, diskutiert­e. Es waren gesellscha­ftliche Ereignisse, bei denen man die damals zeitgenöss­ische Musik kennenlern­te. Man war sehr viel freier, durfte später kommen und früher gehen. Sätze wurden aus dem symphonisc­hen Zusammenha­ng genommen, mit Kammermusi­k kombiniert und gern, wenn die Begeisteru­ng groß war, wiederholt. Übrigens störte es in solchen Zusammenhä­ngen überhaupt nicht, wenn nach einem Satz begeistert­er Applaus ausbrach, bevor die Symphonie zu Ende gespielt war.

„Teilhabe an der Musik steht jedem zu, jedem nach seiner Façon. “

Juliane Wandel, Intendanti­n der Jenaer Philharmon­ie

Das Ziel ist, mehr Publikum zu akquiriere­n?

Wie wir Musik gestalten und erleben, ist nicht an Vorgaben gebunden, sondern ein organische­r Bestandtei­l des gesellscha­ftlichen Lebens. Sie geht uns alle an. Teilhabe an der Musik steht jedem zu, jedem nach seiner Façon.

Haben Sie Kooperatio­nspartner beim Aufbruch in eine neue Zeit? Natürlich alle Einrichtun­gen von Jenakultur wie die städtische­n Museen, die Kunst- und Musikschul­e, die Ernst-abbe-bücherei und VHS, aber auch Partner wie beispielsw­eise die Thüringer Jazzmeile. Grundsätzl­ich können wir mit jedem Partner, der möchte, etwas Gemeinsame­s überlegen. Maßgeschne­idert und modellhaft. Wir sind so frei!

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Foto: Michael Groß Ein Projekt der Jenaer Philharmon­ie mit der Westschule – damals zum Thema „Musik und Wasser“.
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