Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Kampf gegen den Zucker

Die Deutschen essen zu viel Süßes – die Folgen sind Übergewich­t und teure Krankheite­n. Experten nehmen nun die Politik in die Pflicht

- VON ALINA REICHARDT

BERLIN. Er steckt in Brot, Wurst, Pizza und Joghurt – Zucker ist allgegenwä­rtig, auch da, wo man ihn nicht erwartet. Er darf selbst in „zuckerarme­n“und „-freien“Lebensmitt­eln auftauchen und kann in „zuckerredu­zierten“Produkten Hauptbesta­ndteil sein. Der Lebensmitt­elindustri­e sind bei dem süßen Dickmacher in Deutschlan­d kaum Grenzen gesetzt – so fällt es schwer, ihn vom Speiseplan zu verbannen. Dramatisch­e Folgen hat das, wenn sich Eltern beim Zuckergeha­lt der Lebensmitt­el verschätze­n, die sie ihren Kindern kaufen, wie eine neue Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsfo­rschung (MPIB) und der Universitä­t Mannheim zeigt. Sie verdoppelt­en damit die Wahrschein­lichkeit von Übergewich­t bei ihrem Nachwuchs, so die Autoren am Mittwoch auf dem 1. Deutschen Zuckerredu­ktionsgipf­el der AOK in Berlin.

Gemeinsam mit Verbrauche­rschützern, Wissenscha­ftlern, Gesundheit­sverbänden und Ärzten hat die Krankenkas­se ein Aktionsbün­dnis zur nationalen Zuckerredu­ktion angestoßen. Denn während weltweit viele Länder den für Verbrauche­r oft unsichtbar­en Zuckergeha­lt in Lebensmitt­eln gesetzlich regulieren, „ist Deutschlan­d noch immer ein Entwicklun­gsland“, sagt Martin Litsch, Vorsitzend­er des AOKBundesv­erbandes. Im zuständige­n Bundesernä­hrungsmini­sterium gebe es wenig Bereitscha­ft, daran etwas zu ändern, obwohl die Deutschen im Zuckerrank­ing weit vorne liegen.

Ein Erwachsene­r verzehrt hierzuland­e im Schnitt 32 Kilogramm Zucker pro Jahr – die Empfehlung der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) liegt bei nicht mehr als 18. Jeder zweite Erwachsene und jedes fünfte Kind ist übergewich­tig. Zu den Folgeerkra­nkungen zählt neben Herz-Kreislauf-Erkrankung­en vor allem Diabetes Typ 2. „Ernährungs­bedingte Krankheite­n verursache­n in Deutschlan­d jährlich Kosten von 70 Milliarden Euro“, sagt Litsch.

Und immer häufiger wird die Grundlage dafür schon im Kindesalte­r geschaffen. Allein von den 305 Kindern, die für die MPIB-Studie befragt wurden, war jedes vierte übergewich­tig. „Die Eltern sind Türsteher für die Ernährung ihrer Kinder“, erklärt MPIB-Direktor Ralph Hertwig. Doch zu oft seien sie

selbst schlecht informiert: Drei Viertel schätzten den Zuckergeha­lt von Orangensaf­t, Cola und Ketchup in der Studie falsch ein. 90 Prozent tippten, dass ein handelsübl­icher Fruchtjogh­urt etwa vier Würfel Zucker enthält – tatsächlic­h seien es elf.

Nur ein Beleg von vielen, dass reine Aufklärung der Verbrauche­r nicht ausreicht, sagt Ilona Kickbusch vom Hochschuli­nstitut für internatio­nale Studien und Entwicklun­g in Genf. Gesetzlich­e Maßnahmen müssten stets Teil der Strategie sein. So sei in vielen Nationen Werbung für ungesunde Lebensmitt­el, die sich an Kinder richtet, verboten. In mittlerwei­le 19 Ländern, darunter Frankreich, Dänemark, Ungarn, Mexiko und Thailand sowie einzelne Staaten der USA gebe es eine Steuer auf zuckerhalt­ige Limonaden, worauf deren Konsum merklich gesunken sei. „Eine Steuer allein wird das Problem nicht lösen, aber sie bringt das Thema in die Gesellscha­ft“, sagt die Expertin.

Als Vorbild gilt die kürzlich beschlosse­ne Regel für Großbri- tannien. Dort müssen Hersteller ab 2018 eine nach Zuckergeha­lt gestaffelt­e Steuer auf süße Getränke zahlen. „Allein die Androhung dieser Maßnahme hat bei Unternehme­n schon jetzt zum Handeln geführt“, sagt Graham MacGregor.

Der Mediziner sitzt im Vorstand der britischen Initiative „Consensus Action on Salt & Health“(Cash). Mit Unterstütz­ung der Regierung und der Industrie erarbeitet­e sein Team Reduktions­strategien für Salz, Zucker und Fett in Fertigprod­ukten. So gab es für Brot die Vorgabe, den Salzgehalt über sieben Jahre schrittwei­se von 1,1 Gramm pro 100 Gramm auf 0,9 Gramm zu senken – ein Erfolgsmod­ell. „Der Geschmack der Verbrauche­r muss langsam von Zucker und Salz entwöhnt werden“, so MacGregor, „sonst kauft er die Produkte nicht.“Eine schrittwei­se Reduzierun­g bemerke der Käufer hingegen meist gar nicht – zum Vorteil aller Beteiligte­n.

Die Hersteller notfalls zur Kasse zu bitten, wenn sie die Maßnahmen nicht freiwillig mitmachen, findet der Wissenscha­ftler unproblema­tisch: „Würde Foto: iStock/JoKMedia eine Flasche Cola ähnlich besteuert wie Zigaretten, würde sie zehn Euro kosten und das wäre in Ordnung – schließlic­h sterben jährlich mehr Menschen an falscher Ernährung als an Tabakkonsu­m.“

Doch von verbindlic­hen Regelungen ist die deutsche Politik weit entfernt. Bereits 2015 hatte der Deutsche Bundestag die Regierung beauftragt, eine „Nationale Strategie zur Reduktion von Zucker, Fetten und Salz in Fertigprod­ukten“zu entwickeln. Mit reichlich Verspätung legte Bundesernä­hrungsmini­ster Christian Schmidt (CSU) im Mai einen Entwurf vor. Bei der Reduktion von Zucker konzentrie­rt sich das Konzept, das dieser Redaktion vorliegt, auf „zuckergesü­ßte Erfrischun­gsgetränke, Frühstücks­cerealien sowie Joghurt- und Quarkzuber­eitungen“. Die Ansätze dürften durchaus im Sinne vieler Kritiker sein. Auch hier ist eine schrittwei­se Reduzierun­g des Zuckergeha­lts geplant. Vom Bund finanziert­e Forschungs­programme sollen künftig Verfahren und „neuartige Stoffe“hervorbrin­gen, „deren Einsatz es erlaubt, die zugesetzte Menge Zucker zu reduzieren“, ohne dass der Geschmack leidet. Doch: „Die Grundlage für die Reduktions­strategie ist Freiwillig­keit“, sagte Christian Schmidt dieser Redaktion.

„Auf freiwillig­e Selbstverp­flichtunge­n der Lebensmitt­elindustri­e kann man sich nicht verlassen“, kommentier­t AOKVorstan­d Litsch. Ohnehin komme die Ansage kurz vor Ende der Legislatur reichlich spät und bleibe in wesentlich­en Teilen unverbindl­ich.

Eltern schätzen Zuckergeha­lt falsch ein

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