Thüringische Landeszeitung (Gera)
Umstrittene Pkw-Maut soll bis 2021 kommen
Bundeskanzlerin beim Bürgerdialog in Jena: Das Gesetz ist fertig, es geht um die Umsetzung
JENA. Das Projekt Pkw-Maut ist nicht tot: „Das Gesetz ist fertig, es geht jetzt nur noch um die Umsetzung“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Dienstag beim Bürgerdialog mit 54 Lesern der TLZ und der OTZ. Noch in dieser Legislaturperiode solle die Maut kommen, durch die deutsche Autofahrer aber nicht zusätzlich belastet werden sollen. Zuletzt waren selbst in der CSU, die das Projekt in der vergangenen Legislatur vorangetrieben hatte, Zweifel daran laut geworden.
Derzeit laufe die Ausschreibung, wer die Maut erheben und kontrollieren soll, sagte die Regierungschefin auf die Frage eines Teilnehmers. Er beklagte, dass er zwar fast überall in Europa eine Maut zahlen müsse, andere Länder aber eine von Deutschland erhobene Maut zu verhindern suchten. Merkel betonte, dass inzwischen die Europäische Kommission die Maut genehmigt habe, sich deren Einführung aber wegen der schwierigen Regierungsbildung über Monate verzögert habe.
Im Gespräch mit der Geschäftsführerin eines Pflegeheims in Probstzella (Kreis Saalfeld-Rudolstadt) konnte sich An- gela Merkel für die Idee erwärmen, Pflegekräfte aus dem Ausland dazu zu verpflichten, mindestens ein Jahr bei dem Träger zu arbeiten, der sie angewor- ben habe. Die Chefin des Seniorenzentrums hatte eindrücklich geschildert, wie sie Pfleger unter anderem aus Südosteuropa und Asien finanziell und organisatorisch in jeder nur denkbaren Weise unterstützt hatte, diese aber schon nach kurzer Zeit in den Westen gegangen waren, wo höhere Löhne und eine bessere Infrastruktur lockten. „Das ist eine bittere Erfahrung“, zeigte Merkel Verständnis und versprach, diesen Gedanken zu Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mitzunehmen.
Der Bürgerdialog zur Zukunft Europas, für den sich insgesamt etwa 400 Leser beider Zeitungen beworben hatten, war nach dem Auftakt in der Berliner Jane-Adams-Schule der zweite, den die Kanzlerin bestritt. Eines der Hauptthemen in den Räumen der Jenaer Imaginata war dabei die europäische Flüchtlingspolitik. Merkel sagte, dass die EU erst jetzt beginne, ein Ein- und Ausreiseregister aufzubauen. Dass es das nicht eher gab, „war ein großer Nachteil“.
JENA. Am Montag ist FriedrichPeter Seibt – lang aufgeschossen, kariertes Hemd, randlose Brillen – noch ein ganz normaler Zwölftklässler, der am ersten Tag nach den Ferien wieder die Schulbank drückt. Am Dienstag beim Bürgerdialog mit der Bundeskanzlerin in Jena aber ist er plötzlich der, der sich mit schwammigen Antworten nicht zufrieden gibt und immer wieder selbstbewusst nachhakt.
Der junge Jenaer weiß längst, dass er nach dem Abi in Niedersachsen Ökologische Landwirtschaft studieren und später auf einem Öko-Hof arbeiten will. Er ist, sagt er, „mit dem Herzen schon Landwirt“. Und deshalb stellt es ihn auch nicht zufrieden, wenn Angela Merkel auf die Frage, warum sich die EUAgrarpolitik gegen die kleinbäuerlichen Betriebe richtet, nur sagt, dass die kleinen Bauern mehr unterstützt werden sollen.
Wie sie denn das genau meine, will er wissen – und fordert die Regierungschefin auch gleich noch auf, doch bitteschön die Macht der großen Handelsketten zu beschränken. Schließlich säßen die am längeren Hebel, die Existenz der Bauern hinge von ihnen ab.
Angela Merkel schmunzelt, ihr imponiert die Hartnäckigkeit offenbar – und sie sagt, dass die Kleinbauern vor allem von der Bürokratie entlastet werden müssten. Es könne nicht sein, dass sie, wenn zum Beispiel ein Jäger über ihren sorgfältig angelegten Grünstreifen fährt, für eine Entschädigungszahlung erst auflisten müssten, wie die Reifenbreite auf welcher Länge war. „Das ist überkandidelt“, findet Merkel, die gut aufgelegt ist.
Der Abiturient muss sich von ihr aber auch erklären lassen, dass es Sache des Bundeskartellamtes ist, dafür zu sorgen, dass die Handelskonzerne nicht zu dominant werden. „Aber wir müssen den Menschen auch erklären“, führt sie mit Blick auf ihren ländlich geprägten Wahlkreis aus, „dass es ein Vorzug ist, gesunde Lebensmittel aus der Region zu kaufen.“Und ehe der Abiturient erneut nachfragen kann, bittet sie schleunigst um weitere Fragen aus der Runde.
Der erste, der sich zum Auftakt des anderthalbstündigen Gesprächs über Europa ein Herz fasst, ist der Jenaer Physi- ker Stefan Jakobs. Der 51-Jährige, der vergangene Woche im Griechenland-Urlaub von der Mitteilung überrascht wurde, dass er am Bürgerdialog teilnehmen darf, vermisst so etwas wie einen Masterplan der Bundesregierung und der EU für eine gelingende Integration von Asylbewerbern. Eine europäische Kraftanstrengung. „Wie werden diejenigen, die da sind, in Schule, Ausbildung und Arbeit integriert“, will Jakobs wissen und ergänzt, dass er zwar den berühmten Masterplan studiert hat, darin aber bis auf wenige Punkte, in denen es vor allem um Sanktionen für Integrationsunwillige geht, nichts gefunden hat. Die Regierungschefin findet, dass Deutschland ein gutes System mit Deutsch- und Integrationskursen hat, die Bundesagentur für Arbeit sich nach erfolgreichen Sprachkursen auch gut um die Asylbewerber kümmert. Aber es gebe auf diesem Gebiet noch „sehr wenige europäische Gemeinsamkeiten“. Bildung und Ausbildung seien weit- gehend national geregelt. Deshalb habe sie zum Beispiel erst jüngst mit ihren französischen und niederländischen Amtskollegen darüber gesprochen, wer das beste praktische Konzept habe. Die Schwierigkeit dabei wie bei fast allem aber sei: Dass sich darüber 28 EU-Staaten verständigen und auch Kompro- misse finden müssten. Später gewährt Angela Merkel einen kurzen Einblick in die oftmals mühsamen Verhandlungen auf EUEbene, als sie sagt: „Ich denke manchmal, wenn wir nachts um fünf noch sitzen: Es könnte schneller gehen.“
Das Thema Flüchtlinge spielt an diesem Nachmittag in der zum Fernsehstudio umgebauten Spielhalle der Imaginata immer wieder eine Rolle, wobei Angela Merkel noch einmal einräumt, „dass es ein Riesenfehler war“, 2013/14 die Mittel für die Lebensmittelhilfe in den Flüchtlingslagern zu kürzen. Denn das erst habe die Fluchtbewegung gen Europa ausgelöst.
Aber es geht genauso um den Notstand in der Pflege, um Fachkräfte aus dem Ausland, die – wie eine Pflegeheimchefin aus Probstzella berichtet – angeworben und unterstützt werden, dann aber doch in die reicheren Bundesländer weiterziehen. Es geht um das schlechte Außenmarketing der EU, um Kindergeldzahlungen nach Osteuropa und unterschiedliche Lebensbedingungen in Stadt und Land.
Dabei ist nichts gestellt, keine Frage vorher gecheckt. Der vorgelagerte zweistündige Workshop am Vormittag hat eher ein pädagogisches denn ein manipulatives Anliegen: An acht runden Tischen sitzend, sollen sich die Teilnehmer zu drei Themenkomplexen mündlich und schriftlich Gedanken machen – und sich en passant sowohl ihre Aufregung legen als auch zeigen, wer vor großer Runde frei zu sprechen imstande ist.
Noch vergleichsweise leicht zu beantworten ist die Frage, was Europa für die Teilnehmer ganz persönlich bedeutet: Das Stichwort Frieden fällt, die Reisefreiheit wird genannt und die einheitliche Währung in 19 Staaten, aber eben auch ein Übermaß an Reglementierung. Beim zweiten Themenkomplex – der Rolle der EU für Deutschland – sieht die Mehrheit im Konstrukt EU zwar mehr Vorals Nachteile, doch es gibt auch viele kritische Stimmen. Die einen bemängeln die von „irgendwelchen Bürokraten“am grünen Tisch gemachten Verordnungen, die sogar vorschreiben, bei welcher Temperatur Pommes frites gebacken werden, anderen fehlt es an sozialer Gerechtigkeit innerhalb der Europäischen Union oder an Interesse an einer einheitlichen Asylpolitik. Barbara Schwandt, niedergelassene Neurologin in Jena, stört sich an den Nachteilen vor allem „für die kleinen Bürger“, konkret: an der Nullzinspolitik, die Lebensversicherungen und Renten schmälert, aber auch an der Datenschutzgrundverordnung, die für kleine Selbstständige eine Riesenbelastung sei.
Am kritischsten fallen die Ansichten beim Themenschwerpunkt „Erwartungen an die EU“aus: „Ich weiß“, sagt ein 66-Jähriger Rentner aus Bayern, „überhaupt nicht, worüber ich hier eigentlich rede. Die Außendarstellung der EU ist so schlecht, dass keiner genau nachvollziehen kann, was genau in Brüssel oder Straßburg passiert.“
Moderatorin Margit Aufterbeck und ihre Kollegen an den Tischen hören aufmerksam zu, schreiben mit und sammeln emsig die farbigen Karten ein, auf denen die Teilnehmer kurz ihre Ansichten notiert haben. Kein Gedanke soll verloren gehen, alles im Herbst erst für die Bundesregierung, danach für den Rat für Allgemeine Angelegenheiten und den Europarat zusammengestellt werden.
28 EUStaaten müssen Kompromisse finden
Nullzinspolitik schmälert die Renten