Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Seine härteste Probe
Joachim Löw steht vor einem Endspiel gegen Schweden. Er changiert zwischen Festhalten und Erneuern. Darin steckt der große Konflikt dieser WM.
SOTSCHI. Im Büro von Harun Ars-lan hängt ein DeutschlandTrikot. Arslan ist seit 20 Jahren der Berater von Joachim Löw. Er hat seinen Sitz gegenüber der Staatsoper in Hannover. Das Trikot trug der 62-Jährige während des Finalsieges bei der WM
2014. Löw schrieb eine Widmung drauf: „Wenn man schaffen möchte, was man noch nie hatte, muss man etwas tun, was man noch nie gemacht hat. Für meinen Freund Harun. J. Löw.“
Joachim Löw ist seit zwölf Jahren Bundestrainer. Seine Bilanz ist eindrucksvoll: 163 Länderspiele, 107 Siege. Sollte der 58Jährige bei dieser WM ins Halbfinale einziehen wie bei jedem seiner sechs Turniere zuvor, wird er den Rekordhalter Sepp Herberger (167 Spiele/94 Siege) überholen.
Aber vom Halbfinale ist Löw gerade weit entfernt. Das 0:1 gegen Mexiko hat die deutsche Elf erschüttert und auch etwas den Glauben an Löw. Es war nicht zuletzt seine Niederlage. Er wurde ausgecoacht und reagierte zu spät auf die Überforderung seiner Spieler.
Löw sieht sich als Entwickler. Obwohl er so lange Bundestrainer ist, hat er noch Ziele: Mit der Verteidigung des WM-Titels will er als erfolgreichster Bundestrainer in die Geschichte eingehen. Aber sollte er das zweite Gruppenspiel gegen Schweden am heutigen Sonnabend (20 Uhr, ARD) nicht gewinnen, droht ihm der Eintrag als Erster, der in der Vorrunde ausgeschieden ist. Löw steht vor einer wegweisenden Partie, die mitentscheiden könnte, wie man sich an ihn erinnert. Und er gibt sich kämpferisch: „Ich bin sicher, dass wir eine Reaktion zeigen werden.“
Fragt man Harun Arslan, wie er den Trainer Löw beschreiben würde, zögert er. Der Türke, der mit 15 nach Deutschland kam, tritt nicht gern öffentlich auf. „So wie Jogi als Mensch ist, ist er auch als Trainer zu den Spielern“, sagt Arslan, „er ist verlässlich, loyal, hat sehr klare Ideen. Er ist kein Schaumschläger.“
Arslan sitzt in seinem Büro. Es ist Mitte Mai. Einen Tag zuvor hat Löw seinen Vertrag beim DFB vorzeitig bis 2022 verlängert. Arslan hat das arrangiert. Er und Löw aber haben keinen Vertrag miteinander. Es genügt ein Handschlag. Das ist zwar nicht einzigartig in der Branche, aber es verrät auch etwas darüber, wie Löw funktioniert – über Vertrauen.
Löws wichtige Ratgeber sind Menschen, die er Jahrzehnte kennt: Arslan, aber auch DFBChefscout Urs Siegenthaler. Der 70-Jährige war einst Löws Trainerausbilder. Arslan und Siegenthaler sagen, dass Vertrauen nur ein Element von Löws Persönlichkeitsstruktur sei. Das andere sei der Drang nach Fortschritt. „Dass er sich ständig weiterentwickelt, sich permanent neu erfindet, ist seine große Stärke“, sagt Siegenthaler bei einem Treffen in Basel. Arslan formuliert es so: „Weltmeister wird man nur, wenn man sich immer hinterfragt. Genau das tut Jogi.“Das Trikot an seiner Wand erzählt von den zwei Identitäten.
Es ist eine scheinbare Zerrissenheit Löws zwischen Festhalten und Erneuern. Und das kulminiert im Schweden-Spiel: Festhalten an den Weltmeistern, die zuletzt versagten, oder das Team erneuern? Kein Profi steht so für diesen Konflikt wie Mesut Özil. In jedem einzelnen Turnierspiel unter Löw stand der 29-Jährige in der Startelf. Özil hat diese Generation auf die Reise geschickt, die 2014 ihren Höhepunkt hatte und 2018 nicht enden soll: Er schoss bei der WM 2010 den Siegtreffer gegen Ghana im dritten Vorrundenspiel. Deutschland wäre sonst ausgeschieden und es hätte den Weltmeistertrainer Löw wohl nie gegeben.
Jetzt steht Özil nach der Erdogan-Affäre in der Kritik. Manche fordern seine Herausnahme aus der Startelf. Özil versagte gegen Mexiko nicht. Aber er gab dem Spiel zu wenig Ideen. Nun ist Löw gefragt: Streicht er Özil gegen Schweden, oder ist er unumstößlich für ihn? „Was von Mesut halten ist, weiß jeder“, sagt Löw auf diese Frage und ärgert sich über eine andere. Ob er kein Vertrauen mehr in seine Weltmeister habe? „Ich bitte Sie! Warum sollte das so sein?“
Als Toni Kroos vor der WM gefragt wurde, wie sich Löw seit 2010 verändert habe, sagte er: „Er ist von einem sehr guten zu einem absoluten Toptrainer gereift. Er hat sich mit uns weiterentwickelt.“Vielleicht liegt genau darin die Antwort, wie sich beide Identitäten Löws vereinbaren lassen: Dass auch die Personen, an denen er festhält, sich ständig verbessern. Harun Arslan sagt: „Jogi ist heute nicht mehr der Trainer, der er vor 20 oder zehn Jahren war. Er ist besser geworden. Also müssen auch die Menschen um ihn herum besser werden.“Die Frage ist nur, ob das auch für die Weltmeister um Özil bei dieser WM gilt? Die Schweden-Partie wird Antworten darauf geben.