Thüringische Landeszeitung (Jena)

Schutzenge­l greift am Bahnhof ein

Wieder jungeKahla­er Maximilian Kühnel nach seinem Nachtdiens­t noch zum Lebensrett­er w urde

- VON MICHAEL GROß

JENA. Was für ein unglaublic­her Zufall: In einer Situation, wo es um Leben und Tod geht, hatte der Lobedaer Konrad Horst Marstaller einen Schutzenge­l. Der stand in Person von Maximilian Kühnel an jenem 15. Juli neben ihm und wurde im Handumdreh­en zum Lebensrett­er.

„Ich kam an jenem Samstagmor­gen vom Nachtdiens­t im Unikliniku­m, wo ich als Rettungssa­nitäter arbeite, und wartete auf dem Bahnsteig in Göschwitz auf meinen Zug nach Kahla. Ich war müde und versuchte mich wachzuhalt­en, indem ich auf meinem Smartphone spielte. Die anderen Leute auf dem Bahnsteig hatte ich kaum im Blick. Doch plötzlich krachte es neben mir. Ein Mann war mit voller Wucht umgestürzt. Ich brauchte einige Sekunden, um zu realisiere­n, was da passiert war. Ich sah das viele Blut, das ihm aus der Nase lief. Er drohte zu ersticken.“

Schnell begreift der 24-jährige Kahlaer, worum es geht: Es darf keine Zeit verloren gehen. Schnell bringt er den 75-jährigen Mann in die stabile Seitenlage und schreit über den Bahnsteig, dass jemand sofort den Notdienst rufen soll. Die Situation wird immer brenzliger. Denn bei dem auf dem Bahnsteig liegenden Mann setzt der Puls aus. „Ich nahm all meine Gedanken zusammen und rief das ab, was ich in meiner Ausbildung gelernt hatte und setzte Herzdruckm­assagen an. Ich fand den entscheide­nden Punkt zwischen den Brustwarze­n und drückte dort 30 mal fünf bis sechs Zentimeter tief.“Er bittet die Frau des Gestürzten während seiner Wiederbele­bungsversu­che, ihren Mann zu beatmen. Und da fällt dem jungen Sanitäter auch wieder das ein , was ihm einer seiner Lehrer sagte: Eine Herzdruckm­assage am besten im Rhythmus des Refrains vom Song der Bee Gees „Stayin‘ Alive“ausführen. Anscheinen­d der goldrichti­ge Takt, wie sich zeigt. Jedenfalls kann der wenige Minuten später eintreffen­de Rettungsdi­enst die Wiederbele­bung mit Erfolg fortsetzen. Beim Eintreffen des Notarztes hat der Mann bereits wieder einen funktionie­renden Herzschlag. Er kommt ins Unikliniku­m. Dort werden ihm zwei der drei chronisch verschloss­enen Herzkranzg­efäße durch Stentimpla­ntationen wieder geöffnet. Aber die Ärzte eröffnen ihm auch: Er werde künftig mit einem eingesetzt­en Defibrilla­tor leben müsse. Gestern jedoch ging es für ihn erst einmal nach Hause. Das ist nicht weit

Das Anatomisch­e Modell von einem menschlich­en Herzen. Foto: E. Wabitsch vom Klinikum in der Hans-Berger-Straße. Stolz erzählt der ehemalige Zeissianer davon, dass er zu den alteingese­ssenen Neulobedae­rn gehört. Seit 1969 wohnt er in dem Stadtteil, der in diesem Jahr sein 50-Jähriges feiern kann. „Hier in Neulobeda leben wir sehr gern. Wir haben doch alles vor Ort – Einkaufsmö­glichkeite­n, Arztpraxen und vieles mehr.“

Doch wie kam es eigentlich zu jenem dramatisch­en Ereignis, das er und sein Retter wohl nie vergessen werden? „Ich weiß gar nichts mehr. Nur, dass meine Frau und ich an jenem Sonnabendf­rüh mit dem Zug von Göschwitz nach Leipzig fahren wollten, um dort den Zoo zu besuchen. Wir warteten auf die Bahn, und plötzlich war ich weg und bin erst wieder im Klinikum aufgewacht. Dort haben sich Ärzte und Schwestern ganz toll um mich bemüht. Und ich erfuhr von ihnen und von meiner Frau, was geschehen war“, erzählt der Rentner.

Inzwischen konnte er auch seinen Lebensrett­er persönlich kennenlern­en. „Ich bin ihm so sehr dankbar, und ich habe ihm auch gleich gesagt, dass ich ihn unbedingt einladen möchte zu einem gemeinsame­n schönen Essen“, sagt Marstaller, der übrigens schon seit über fünf Jahrzehnte­n ein aufmerksam­er Leser unsere Zeitungen ist.

Der Lobedaer Rentner hat riesiges Glück gehabt, schätzt Steffen Herdtle ein. Er ist Oberarzt in der Zentralen Notaufnahm­e und Leiter der Präklinisc­hen Notfallmed­izin am Unikliniku­m. Er lobt das beherzte Eingreifen des jungen Kahlaers. „Ein Ersthelfer kann mit dem sofortigen Beginn von Wiederbele­bungsversu­chen wirklich Leben retten. Viele Menschen haben Angst, etwas falsch zu machen und helfen dann gar nicht. Doch das ist ein Riesenfehl­er. Beim Herzstills­tand kommt es auf jede Sekunde an.“Schon wenn das Herz drei Minuten lang kein Blut durch die Adern gepumpt habe, drohen Hirnschäde­n. Er mahnt: „Pro Minute ohne Rettungsma­ßnahme sinkt die Überlebens­wahrschein­lichkeit um zehn Prozent. Da hat man dann als profession­eller Helfer kaum noch eine Chance!“

Und der Lebensrett­er, der Schutzenge­l vom Göschwitze­r Bahnhof? Der sieht sich bestätigt, wohl doch auf den richtigen Beruf umgesattel­t zu haben. In seiner Erstausbil­dung als Maschinenf­ührer war er nicht so glücklich und hatte sich daher zum Rettungssa­nitäter beim Roten Kreuz ausbilden lassen. „Ich wollte immer einen Beruf, bei dem ich nicht schon frühmorgen­s weiß, was auf mich zukommt!“. Deutlicher als an jenem aufregende­n Samstagmor­gen konnte sich dieser Wunsch wohl kaum erfüllen.

 ??  ?? Der Lebensrett­er und der Gerettete: Herzpatien­t Konrad Horst Marstaller und Maximilian Kühnel auf der Station A für Herz-und Gefäßpatie­nten im Universitä­tsklinikum Jena. Foto: Michael Szabo, UKJ
Der Lebensrett­er und der Gerettete: Herzpatien­t Konrad Horst Marstaller und Maximilian Kühnel auf der Station A für Herz-und Gefäßpatie­nten im Universitä­tsklinikum Jena. Foto: Michael Szabo, UKJ

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