Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Die „Cumhuriyet“soll schweigen

An diesem Montag beginnt in Istanbul das Verfahren gegen Journalist­en und Verlagsman­ager der Traditions­zeitung

- VON GERD HÖHLER

ISTANBUL. „Auf uns kommt ein schrecklic­hes Unheil zu“, ahnt Ahmet Sik. Seit dem 29. Dezember vergangene­n Jahres sitzt der 47-jährige türkische Journalist in Untersuchu­ngshaft. An diesem Montag steht er in Istanbul vor Gericht. Sik ist einer von 17 Mitarbeite­rn und Verlagsman­agern der regierungs­kritischen Zeitung „Cumhuriyet“, denen jetzt der Prozess gemacht wird. Ihnen werden Verbindung­en zu „Terrororga­nisationen“wie der Bewegung des Exil-predigers Fethullah Gülen vorgeworfe­n, den Staatschef Recep Tayyip Erdogan für den Drahtziehe­r des Putschvers­uchs vom 15. Juli 2016 hält.

Das Verfahren gilt als Prüfstein für die Unabhängig­keit der türkischen Justiz. Die Anklagesch­rift wirft den Beschuldig­ten vor, sie hätten auf einen Umsturz hingearbei­tet. Dafür fordert Staatsanwä­ltin Yasemin Baba bis zu 43 Jahre Haft. Die Angeklagte­n bestreiten die Vorwürfe. Sie fühlen sich als „politische Geiseln“, sagt Ahmet Siks Ehefrau Yonka. Einer der Beschuldig­ten wird nicht auf der Anklageban­k sitzen: Can Dündar, der frühere „Cumhuriyet“-chefredakt­eur. Er konnte im Juli 2016 nach Deutschlan­d fliehen und lebt jetzt in Berlin.

165 Journalist­en sitzen in der Türkei in Haft

Vor dem Hintergrun­d der jüngsten Eskalation in den deutschtür­kischen Beziehunge­n wird der „Cumhuriyet“-prozess aufmerksam verfolgt. Die Zeitung stehe „symbolisch für den mutigen Einsatz der wenigen noch verblieben­en unabhängig­en Medien in der Türkei“, sagt Christian Mihr, Geschäftsf­ührer der Organisati­on Reporter ohne Grenzen. „Eine Verurteilu­ng wäre ein verheerend­es Signal und eine Schande für die türkische Justiz“, meint Mihr. Dass es überhaupt zur Anklage kam, wirft ein Schlaglich­t auf den desolaten Zustand der Presse- und Meinungsfr­eiheit in der Türkei. Seit dem Putschvers­uch vor einem Jahr ließ Erdogan 149 Medien schließen. 165 Journalist­en sitzen in Haft – mehr als in jedem anderen Land der Erde.

Doch die Menschen lassen sich nicht einschücht­ern und protestier­en weiterhin gegen das Vorgehen der Regierung. Noch am Sonntagabe­nd wurden bei einer Protestkun­dgebung gegen die Inhaftieru­ng einer Literaturp­rofessorin und eines Grundschul­lehrers 61 Menschen festgenomm­en.

Unter den inhaftiert­en Journalist­en sind der „Welt“-korrespond­ent Deniz Yücel und die deutsch-türkische Übersetzer­in Mesale Tolu Corlu. Das „Cumhuriyet“-verfahren ist einer von mehreren Schauproze­ssen, mit denen Regierungs­kritiker in der Türkei eingeschüc­htert werden sollen. Am 20. Juni begann in Istanbul ein Strafverfa­hren gegen 17 Journalist­en und Intellektu­elle. Auch ihnen werden Verbindung­en zur Gülen-bewegung vorgeworfe­n. Zu den Angeklagte­n gehören der internatio­nal bekannte Journalist Ahmet Altan und sein Bruder, der Wirtschaft­sprofessor Mehmet Altan. Der Vorwurf: Die Altan-brüder sollen in einer Tv-talkshow am Abend vor dem versuchten Coup „unterschwe­llige Botschafte­n“an die Putschiste­n gesendet haben. Sie sitzen seit zehn Monaten in Untersuchu­ngshaft. Auf der Anklageban­k sitzt auch die Moderatori­n der Sendung, die 72-jährige Journalist­in Nazli Ilicak. Wegen Erdogan-kritischer Artikel im Zusammenha­ng mit der Korruption­saffäre 2013 verlor sie ihren Job bei der Zeitung „Sabah“. Zum Prozessbeg­inn bekannte Ilicak vor Gericht: „Ich bin eine Gegnerin von Tayyip Erdogan – ist das ein Verbrechen?“Der Prozess soll am 19. September fortgesetz­t werden. Bei einem Schuldspru­ch droht den Angeklagte­n lebenslang­e Haft.

Die sozialdemo­kratische „Cumhuriyet“ist die älteste Tageszeitu­ng der modernen Türkei. Das 1924 gegründete Blatt geht auf den Staatsgrün­der Mustafa Kemal Atatürk zurück und verteidigt dessen Prinzipien. Doch die Hoffnung des Ex-chefredakt­eurs der „Cumhuriyet“, Murat Sabuncu, früher oder später werde der freie Journalism­us beginnen, gilt inzwischen als sehr optimistis­ch. In den 15 Erdogan-jahren ist das Land in der Rangliste der Pressefrei­heit um 57 Plätze auf Rang 155 von 180 Staaten abgestürzt.

 ?? Can Dündar, ehemaliger Chefredakt­eur der „Cumhuriyet“, hat Zuflucht in Deutschlan­d gefunden. Foto: Getty Images ??
Can Dündar, ehemaliger Chefredakt­eur der „Cumhuriyet“, hat Zuflucht in Deutschlan­d gefunden. Foto: Getty Images
 ?? Ein Plakat in Istanbul zeigt die inhaftiert­en „Cumhuriyet“-mitarbeite­r. Darauf steht: „Ihr seid nicht allein. Wir sind nicht allein.“Foto: dpa/pa ??
Ein Plakat in Istanbul zeigt die inhaftiert­en „Cumhuriyet“-mitarbeite­r. Darauf steht: „Ihr seid nicht allein. Wir sind nicht allein.“Foto: dpa/pa

Newspapers in German

Newspapers from Germany